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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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nicht daß eine bloße Ernährung, sondern daß eine förmliche Erziehung
mit Lehrmitteln gegeben werden kann. Ist das nicht der Fall, so
ist es besser, die Waisen bei Familien unterzubringen. Besteht aber
ein Waisenhaus, so soll es nicht bloß für eigentliche Waisen da sein,
sondern es soll theils auch temporär Kinder, deren Eltern unfähig
sind, aufnehmen, theils soll die Waisenschule stets den Kern der
Armenkinderschule abgeben
, und mithin niemals bloß Waisen-
schule sein. Die Verwaltung ist Gemeindeverwaltung unter der Land-
schaft; sie wird von dem Armenrathe der Gemeinde geleitet, mit Ober-
aufsicht über Unterhalt und Unterricht. Die Dauer der Waisenpflege
soll bis zur Vollendung des ersten Grades gewerblicher Bildung gehen;
niemand wird hier an confessionelle Unterschiede denken. Die vollste
Oeffentlichkeit, namentlich die Verbindung der Waisenschule mit den
Armenkinderschulen ist die Grundlage ihres Werthes für ihre gesell-
schaftliche Stellung.

Die Waisenpflege ist in England wenig ausgebildet, sie wird sich erst
an den Armenschulen entwickeln. Eigentliche Waisenhäuser gibt es wohl nur
wenige. Gerando II. 85. -- In Frankreich wird die Waisenpflege unter
den weiten Begriff der Hospices (H. des enfants) zusammengefaßt. Sie be-
stehen schon seit dem 14. Jahrhundert; das Gesetz vom 28. Juni 1793 über-
nahm alle Armenkinder auf den Staat, verschmolz sie aber mit den enfants
abandonnes,
bis die Waisenpflege 1814 wieder selbständig und in den Hospices
hergestellt ward. Geschichte bei Gerando II. 88 ff. -- Preußen hat eben
so selbständige örtliche Waisenhäuser (Rönne II. §. 13). -- Oesterreich:
Stubenrauch
, Verwaltungsgesetz I. 45 (Waisencommission) Verordnung vom
16. Nov. 1850 und 14. Juli 1854 und II. 357. Ueber die übrigen Staaten
s. Emminghaus; vergl. dazu Rau II. 355 mit Literatur, jedoch ohne be-
sondere Unterscheidung des Verhältnisses der Armenschulen.

b) Findelkinder.

Die Anerkennung, daß verlassene Neugeborene der öffentlichen
Sorge anheimfallen, ist schon vom Concil von Nicäa im vierten Jahr-
hundert ausgesprochen und niemals bestritten. Das Findelhaus-
wesen
beginnt jedoch erst da, wo die Anstalt getroffen wird, daß
Neugeborene in einem eigens dazu errichteten Hause von den Müttern
der öffentlichen Pflege ohne weitere Angabe der Eltern übergeben wer-
den können. Damit erst ist die eigentliche Frage der Findelhäuser
entstanden, bei denen jene Aufnahme wesentlich im Interesse des
Schutzes der Ehre der Mutter und zum Theil auch als Abwehr gegen
Kindesmorde und Fruchtabtreibung hergestellt wird, während der Unter-
halt der Findlinge als durchaus identisch mit dem Waisenwesen erkannt

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 28

nicht daß eine bloße Ernährung, ſondern daß eine förmliche Erziehung
mit Lehrmitteln gegeben werden kann. Iſt das nicht der Fall, ſo
iſt es beſſer, die Waiſen bei Familien unterzubringen. Beſteht aber
ein Waiſenhaus, ſo ſoll es nicht bloß für eigentliche Waiſen da ſein,
ſondern es ſoll theils auch temporär Kinder, deren Eltern unfähig
ſind, aufnehmen, theils ſoll die Waiſenſchule ſtets den Kern der
Armenkinderſchule abgeben
, und mithin niemals bloß Waiſen-
ſchule ſein. Die Verwaltung iſt Gemeindeverwaltung unter der Land-
ſchaft; ſie wird von dem Armenrathe der Gemeinde geleitet, mit Ober-
aufſicht über Unterhalt und Unterricht. Die Dauer der Waiſenpflege
ſoll bis zur Vollendung des erſten Grades gewerblicher Bildung gehen;
niemand wird hier an confeſſionelle Unterſchiede denken. Die vollſte
Oeffentlichkeit, namentlich die Verbindung der Waiſenſchule mit den
Armenkinderſchulen iſt die Grundlage ihres Werthes für ihre geſell-
ſchaftliche Stellung.

Die Waiſenpflege iſt in England wenig ausgebildet, ſie wird ſich erſt
an den Armenſchulen entwickeln. Eigentliche Waiſenhäuſer gibt es wohl nur
wenige. Gerando II. 85. — In Frankreich wird die Waiſenpflege unter
den weiten Begriff der Hospices (H. des enfants) zuſammengefaßt. Sie be-
ſtehen ſchon ſeit dem 14. Jahrhundert; das Geſetz vom 28. Juni 1793 über-
nahm alle Armenkinder auf den Staat, verſchmolz ſie aber mit den enfants
abandonnés,
bis die Waiſenpflege 1814 wieder ſelbſtändig und in den Hospices
hergeſtellt ward. Geſchichte bei Gerando II. 88 ff. — Preußen hat eben
ſo ſelbſtändige örtliche Waiſenhäuſer (Rönne II. §. 13). — Oeſterreich:
Stubenrauch
, Verwaltungsgeſetz I. 45 (Waiſencommiſſion) Verordnung vom
16. Nov. 1850 und 14. Juli 1854 und II. 357. Ueber die übrigen Staaten
ſ. Emminghaus; vergl. dazu Rau II. 355 mit Literatur, jedoch ohne be-
ſondere Unterſcheidung des Verhältniſſes der Armenſchulen.

b) Findelkinder.

Die Anerkennung, daß verlaſſene Neugeborene der öffentlichen
Sorge anheimfallen, iſt ſchon vom Concil von Nicäa im vierten Jahr-
hundert ausgeſprochen und niemals beſtritten. Das Findelhaus-
weſen
beginnt jedoch erſt da, wo die Anſtalt getroffen wird, daß
Neugeborene in einem eigens dazu errichteten Hauſe von den Müttern
der öffentlichen Pflege ohne weitere Angabe der Eltern übergeben wer-
den können. Damit erſt iſt die eigentliche Frage der Findelhäuſer
entſtanden, bei denen jene Aufnahme weſentlich im Intereſſe des
Schutzes der Ehre der Mutter und zum Theil auch als Abwehr gegen
Kindesmorde und Fruchtabtreibung hergeſtellt wird, während der Unter-
halt der Findlinge als durchaus identiſch mit dem Waiſenweſen erkannt

Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 28
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[433/0457] nicht daß eine bloße Ernährung, ſondern daß eine förmliche Erziehung mit Lehrmitteln gegeben werden kann. Iſt das nicht der Fall, ſo iſt es beſſer, die Waiſen bei Familien unterzubringen. Beſteht aber ein Waiſenhaus, ſo ſoll es nicht bloß für eigentliche Waiſen da ſein, ſondern es ſoll theils auch temporär Kinder, deren Eltern unfähig ſind, aufnehmen, theils ſoll die Waiſenſchule ſtets den Kern der Armenkinderſchule abgeben, und mithin niemals bloß Waiſen- ſchule ſein. Die Verwaltung iſt Gemeindeverwaltung unter der Land- ſchaft; ſie wird von dem Armenrathe der Gemeinde geleitet, mit Ober- aufſicht über Unterhalt und Unterricht. Die Dauer der Waiſenpflege ſoll bis zur Vollendung des erſten Grades gewerblicher Bildung gehen; niemand wird hier an confeſſionelle Unterſchiede denken. Die vollſte Oeffentlichkeit, namentlich die Verbindung der Waiſenſchule mit den Armenkinderſchulen iſt die Grundlage ihres Werthes für ihre geſell- ſchaftliche Stellung. Die Waiſenpflege iſt in England wenig ausgebildet, ſie wird ſich erſt an den Armenſchulen entwickeln. Eigentliche Waiſenhäuſer gibt es wohl nur wenige. Gerando II. 85. — In Frankreich wird die Waiſenpflege unter den weiten Begriff der Hospices (H. des enfants) zuſammengefaßt. Sie be- ſtehen ſchon ſeit dem 14. Jahrhundert; das Geſetz vom 28. Juni 1793 über- nahm alle Armenkinder auf den Staat, verſchmolz ſie aber mit den enfants abandonnés, bis die Waiſenpflege 1814 wieder ſelbſtändig und in den Hospices hergeſtellt ward. Geſchichte bei Gerando II. 88 ff. — Preußen hat eben ſo ſelbſtändige örtliche Waiſenhäuſer (Rönne II. §. 13). — Oeſterreich: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetz I. 45 (Waiſencommiſſion) Verordnung vom 16. Nov. 1850 und 14. Juli 1854 und II. 357. Ueber die übrigen Staaten ſ. Emminghaus; vergl. dazu Rau II. 355 mit Literatur, jedoch ohne be- ſondere Unterſcheidung des Verhältniſſes der Armenſchulen. b) Findelkinder. Die Anerkennung, daß verlaſſene Neugeborene der öffentlichen Sorge anheimfallen, iſt ſchon vom Concil von Nicäa im vierten Jahr- hundert ausgeſprochen und niemals beſtritten. Das Findelhaus- weſen beginnt jedoch erſt da, wo die Anſtalt getroffen wird, daß Neugeborene in einem eigens dazu errichteten Hauſe von den Müttern der öffentlichen Pflege ohne weitere Angabe der Eltern übergeben wer- den können. Damit erſt iſt die eigentliche Frage der Findelhäuſer entſtanden, bei denen jene Aufnahme weſentlich im Intereſſe des Schutzes der Ehre der Mutter und zum Theil auch als Abwehr gegen Kindesmorde und Fruchtabtreibung hergeſtellt wird, während der Unter- halt der Findlinge als durchaus identiſch mit dem Waiſenweſen erkannt Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 28

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/457>, abgerufen am 23.11.2024.