eigenen Gebiete gestaltet. So sind wir hier in mächtigem Fortschritte begriffen. Allein andererseits ergibt sich, wie überhaupt die Behand- lung des Armenwesens auf gesellschaftlicher Basis ruht, daß dieselbe in den verschiedenen Ländern auch sehr verschieden sowohl in Princip als in Ausführung ist. Und zwar wird es klar sein, daß in dieser Verschiedenheit sich wesentlich der gesellschaftliche Zustand überhaupt, vor allem aber die Stellung der Kirche zur Gemeinschaft abspiegelt. Die höhere Wissenschaft muß daher von dem Gedanken ausgehen, daß die Besonderheiten der positiven Armenverwaltung nicht etwa zufällig sind, sondern daß dieselben im Ganzen als Folgen des gesellschaftlichen Organismus des betreffenden Volkes erkannt und verstanden werden müssen. Diese Besonderheiten aber richten sich wesentlich nach zwei Punkten: nach dem Grade, in welchem die Kirche in einem Lande noch eine Macht in weltlichen Dingen ist, und nach dem Grade der Ent- wicklung der eigentlichen Regierung und ihres centralen Organismus, während das Princip der Vollziehung des Armenwesens durch die Selbst- verwaltungskörper ein ganz Europa gemeinsames ist.
Die Literatur über das Armenwesen ist eine ungemein reiche; obwohl syste- matische Werke selten sind (vergl. Mohl, Polizeiwissenschaft I. §. 52: RauII. §. 315 ff.; de GerandoI. Einleitung). Der Charakter der Hauptvölker in Beziehung auf das Armenwesen in Gesetzgebung und Verwaltung ist ein specifischer, und wird selten verglichen. -- England ist das erste Volk, welches eine vollständige Armengesetzgebung mit 13. Eliz. 2. (1539) besitzt, deren Veranlassung die Aufhebung der Klöster war. Geschichte: Eden, State of the poor 1793 höchst gründlich. Ihr bekanntes Princip ist die gesetzliche, den Gemeinden zur Verwaltung übergebene Armenpflicht, deren Grund- lage die Selbstbesteuerung für die Armenlast in der poor rate ist. Die All- gemeinheit dieser Pflicht erzeugte ihre Gleichartigkeit; das Entstehen der Industrie seit dem vorigen Jahrhundert das Wachsen der Last, und so entstand die Noth- wendigkeit, dem Armenwesen eine einheitliche Organisation zu geben, die mit dem Jahr 1834 eintrat. Dieß streng administrative Armenwesen ist daher auch fast ausschließlich auf die eigentliche Armenpflege beschränkt, während die übrigen Gebiete wenig zur Entwicklung gelangen, hat aber für diese Armenpflege gerade durch ihre streng gesetzliche Normirung zugleich einen durchgreifenden juristi- schen Charakter, wie in keinem andern Lande, ohne Rücksicht auf die gesell- schaftliche Armuth, die hier zuerst sich selbst helfen gelernt hat. -- In Frank- reich ist mit der Revolution das Armenwesen der Kirche gleichfalls definitiv entzogen; doch bestehen hier die Reste der ständischen Ordnung in gewaltigen Stiftungen (Hospitäler s. unten), während andererseits die örtliche Armenpflege durch den allgemeinen Mangel an freier Selbstverwaltung wenig zur Entwick- lung gediehen ist, und die Stiftungen dasselbe zu viel ersetzen müssen. -- In Deutschland ist große Verschiedenheit, je nach der socialen Entwicklung. -- Oesterreich hat es, vermöge der Stellung seiner Kirche, nie zu einer einheit-
eigenen Gebiete geſtaltet. So ſind wir hier in mächtigem Fortſchritte begriffen. Allein andererſeits ergibt ſich, wie überhaupt die Behand- lung des Armenweſens auf geſellſchaftlicher Baſis ruht, daß dieſelbe in den verſchiedenen Ländern auch ſehr verſchieden ſowohl in Princip als in Ausführung iſt. Und zwar wird es klar ſein, daß in dieſer Verſchiedenheit ſich weſentlich der geſellſchaftliche Zuſtand überhaupt, vor allem aber die Stellung der Kirche zur Gemeinſchaft abſpiegelt. Die höhere Wiſſenſchaft muß daher von dem Gedanken ausgehen, daß die Beſonderheiten der poſitiven Armenverwaltung nicht etwa zufällig ſind, ſondern daß dieſelben im Ganzen als Folgen des geſellſchaftlichen Organismus des betreffenden Volkes erkannt und verſtanden werden müſſen. Dieſe Beſonderheiten aber richten ſich weſentlich nach zwei Punkten: nach dem Grade, in welchem die Kirche in einem Lande noch eine Macht in weltlichen Dingen iſt, und nach dem Grade der Ent- wicklung der eigentlichen Regierung und ihres centralen Organismus, während das Princip der Vollziehung des Armenweſens durch die Selbſt- verwaltungskörper ein ganz Europa gemeinſames iſt.
Die Literatur über das Armenweſen iſt eine ungemein reiche; obwohl ſyſte- matiſche Werke ſelten ſind (vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 52: RauII. §. 315 ff.; de GerandoI. Einleitung). Der Charakter der Hauptvölker in Beziehung auf das Armenweſen in Geſetzgebung und Verwaltung iſt ein ſpecifiſcher, und wird ſelten verglichen. — England iſt das erſte Volk, welches eine vollſtändige Armengeſetzgebung mit 13. Eliz. 2. (1539) beſitzt, deren Veranlaſſung die Aufhebung der Klöſter war. Geſchichte: Eden, State of the poor 1793 höchſt gründlich. Ihr bekanntes Princip iſt die geſetzliche, den Gemeinden zur Verwaltung übergebene Armenpflicht, deren Grund- lage die Selbſtbeſteuerung für die Armenlaſt in der poor rate iſt. Die All- gemeinheit dieſer Pflicht erzeugte ihre Gleichartigkeit; das Entſtehen der Induſtrie ſeit dem vorigen Jahrhundert das Wachſen der Laſt, und ſo entſtand die Noth- wendigkeit, dem Armenweſen eine einheitliche Organiſation zu geben, die mit dem Jahr 1834 eintrat. Dieß ſtreng adminiſtrative Armenweſen iſt daher auch faſt ausſchließlich auf die eigentliche Armenpflege beſchränkt, während die übrigen Gebiete wenig zur Entwicklung gelangen, hat aber für dieſe Armenpflege gerade durch ihre ſtreng geſetzliche Normirung zugleich einen durchgreifenden juriſti- ſchen Charakter, wie in keinem andern Lande, ohne Rückſicht auf die geſell- ſchaftliche Armuth, die hier zuerſt ſich ſelbſt helfen gelernt hat. — In Frank- reich iſt mit der Revolution das Armenweſen der Kirche gleichfalls definitiv entzogen; doch beſtehen hier die Reſte der ſtändiſchen Ordnung in gewaltigen Stiftungen (Hoſpitäler ſ. unten), während andererſeits die örtliche Armenpflege durch den allgemeinen Mangel an freier Selbſtverwaltung wenig zur Entwick- lung gediehen iſt, und die Stiftungen daſſelbe zu viel erſetzen müſſen. — In Deutſchland iſt große Verſchiedenheit, je nach der ſocialen Entwicklung. — Oeſterreich hat es, vermöge der Stellung ſeiner Kirche, nie zu einer einheit-
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eigenen Gebiete geſtaltet. So ſind wir hier in mächtigem Fortſchritte
begriffen. Allein andererſeits ergibt ſich, wie überhaupt die Behand-
lung des Armenweſens auf geſellſchaftlicher Baſis ruht, daß dieſelbe
in den verſchiedenen Ländern auch ſehr verſchieden ſowohl in Princip
als in Ausführung iſt. Und zwar wird es klar ſein, daß in dieſer
Verſchiedenheit ſich weſentlich der geſellſchaftliche Zuſtand überhaupt,
vor allem aber die Stellung der Kirche zur Gemeinſchaft abſpiegelt.
Die höhere Wiſſenſchaft muß daher von dem Gedanken ausgehen, daß
die Beſonderheiten der poſitiven Armenverwaltung nicht etwa zufällig
ſind, ſondern daß dieſelben im Ganzen als Folgen des geſellſchaftlichen
Organismus des betreffenden Volkes erkannt und verſtanden werden
müſſen. Dieſe Beſonderheiten aber richten ſich weſentlich nach zwei
Punkten: nach dem Grade, in welchem die Kirche in einem Lande noch
eine Macht in weltlichen Dingen iſt, und nach dem Grade der Ent-
wicklung der eigentlichen Regierung und ihres centralen Organismus,
während das Princip der Vollziehung des Armenweſens durch die Selbſt-
verwaltungskörper ein ganz Europa gemeinſames iſt.
Die Literatur über das Armenweſen iſt eine ungemein reiche; obwohl ſyſte-
matiſche Werke ſelten ſind (vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 52: Rau II.
§. 315 ff.; de Gerando I. Einleitung). Der Charakter der Hauptvölker in
Beziehung auf das Armenweſen in Geſetzgebung und Verwaltung iſt
ein ſpecifiſcher, und wird ſelten verglichen. — England iſt das erſte Volk,
welches eine vollſtändige Armengeſetzgebung mit 13. Eliz. 2. (1539) beſitzt,
deren Veranlaſſung die Aufhebung der Klöſter war. Geſchichte: Eden, State
of the poor 1793 höchſt gründlich. Ihr bekanntes Princip iſt die geſetzliche,
den Gemeinden zur Verwaltung übergebene Armenpflicht, deren Grund-
lage die Selbſtbeſteuerung für die Armenlaſt in der poor rate iſt. Die All-
gemeinheit dieſer Pflicht erzeugte ihre Gleichartigkeit; das Entſtehen der Induſtrie
ſeit dem vorigen Jahrhundert das Wachſen der Laſt, und ſo entſtand die Noth-
wendigkeit, dem Armenweſen eine einheitliche Organiſation zu geben, die mit
dem Jahr 1834 eintrat. Dieß ſtreng adminiſtrative Armenweſen iſt daher auch
faſt ausſchließlich auf die eigentliche Armenpflege beſchränkt, während die übrigen
Gebiete wenig zur Entwicklung gelangen, hat aber für dieſe Armenpflege gerade
durch ihre ſtreng geſetzliche Normirung zugleich einen durchgreifenden juriſti-
ſchen Charakter, wie in keinem andern Lande, ohne Rückſicht auf die geſell-
ſchaftliche Armuth, die hier zuerſt ſich ſelbſt helfen gelernt hat. — In Frank-
reich iſt mit der Revolution das Armenweſen der Kirche gleichfalls definitiv
entzogen; doch beſtehen hier die Reſte der ſtändiſchen Ordnung in gewaltigen
Stiftungen (Hoſpitäler ſ. unten), während andererſeits die örtliche Armenpflege
durch den allgemeinen Mangel an freier Selbſtverwaltung wenig zur Entwick-
lung gediehen iſt, und die Stiftungen daſſelbe zu viel erſetzen müſſen. — In
Deutſchland iſt große Verſchiedenheit, je nach der ſocialen Entwicklung. —
Oeſterreich hat es, vermöge der Stellung ſeiner Kirche, nie zu einer einheit-
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/448>, abgerufen am 22.11.2024.
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