Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_093.001
darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter pst_093.002
seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler pst_093.003
deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen pst_093.004
an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine pst_093.005
Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten. pst_093.006
Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du pst_093.007
an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet. pst_093.008
Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet pst_093.009
sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt, pst_093.010
der dasteht mit dem Stab in der Hand - um Vischers pst_093.011
Worte zu gebrauchen1 - und auf die erscheinenden Bilder pst_093.012
weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen pst_093.013
zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar pst_093.014
sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im pst_093.015
Gleichmaß des Verses hörbar wird.

pst_093.016

Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als pst_093.017
es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht pst_093.018
erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern pst_093.019
er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie pst_093.020
der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt, pst_093.021
so, daß es uns vor Augen und eben deshalb pst_093.022
gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und pst_093.023
größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt:

pst_093.024
"Uns ist in alten maeren wunders vil geseit."
pst_093.025

Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht pst_093.026
seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina pst_093.027
des Archaischen bemüht. So gibt es in der "Ilias" zum pst_093.028
Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal,

1 pst_093.029
a. a. O. Bd. VI, S. 129.

pst_093.001
darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter pst_093.002
seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler pst_093.003
deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen pst_093.004
an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine pst_093.005
Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten. pst_093.006
Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du pst_093.007
an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet. pst_093.008
Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet pst_093.009
sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt, pst_093.010
der dasteht mit dem Stab in der Hand – um Vischers pst_093.011
Worte zu gebrauchen1 – und auf die erscheinenden Bilder pst_093.012
weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen pst_093.013
zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar pst_093.014
sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im pst_093.015
Gleichmaß des Verses hörbar wird.

pst_093.016

  Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als pst_093.017
es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht pst_093.018
erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern pst_093.019
er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie pst_093.020
der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt, pst_093.021
so, daß es uns vor Augen und eben deshalb pst_093.022
gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und pst_093.023
größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt:

pst_093.024
«Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.»
pst_093.025

Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht pst_093.026
seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina pst_093.027
des Archaischen bemüht. So gibt es in der «Ilias» zum pst_093.028
Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal,

1 pst_093.029
a. a. O. Bd. VI, S. 129.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0097" n="93"/><lb n="pst_093.001"/>
darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter <lb n="pst_093.002"/>
seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler <lb n="pst_093.003"/>
deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen <lb n="pst_093.004"/>
an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine <lb n="pst_093.005"/>
Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten. <lb n="pst_093.006"/>
Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du <lb n="pst_093.007"/>
an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet. <lb n="pst_093.008"/>
Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet <lb n="pst_093.009"/>
sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt, <lb n="pst_093.010"/>
der dasteht mit dem Stab in der Hand &#x2013; um Vischers <lb n="pst_093.011"/>
Worte zu gebrauchen<note xml:id="PST_093_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_093.029"/>
a. a. O. Bd. VI, S. 129.</note> &#x2013; und auf die erscheinenden Bilder <lb n="pst_093.012"/>
weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen <lb n="pst_093.013"/>
zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar <lb n="pst_093.014"/>
sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im <lb n="pst_093.015"/>
Gleichmaß des Verses hörbar wird.</p>
          <lb n="pst_093.016"/>
          <p>  Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als <lb n="pst_093.017"/>
es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht <lb n="pst_093.018"/>
erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern <lb n="pst_093.019"/>
er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie <lb n="pst_093.020"/>
der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt, <lb n="pst_093.021"/>
so, daß es uns vor Augen und eben deshalb <lb n="pst_093.022"/>
gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und <lb n="pst_093.023"/>
größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt:</p>
          <lb n="pst_093.024"/>
          <lg>
            <l>«Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.»</l>
          </lg>
          <lb n="pst_093.025"/>
          <p>Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht <lb n="pst_093.026"/>
seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina <lb n="pst_093.027"/>
des Archaischen bemüht. So gibt es in der «Ilias» zum <lb n="pst_093.028"/>
Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0097] pst_093.001 darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter pst_093.002 seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler pst_093.003 deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen pst_093.004 an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine pst_093.005 Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten. pst_093.006 Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du pst_093.007 an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet. pst_093.008 Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet pst_093.009 sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt, pst_093.010 der dasteht mit dem Stab in der Hand – um Vischers pst_093.011 Worte zu gebrauchen 1 – und auf die erscheinenden Bilder pst_093.012 weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen pst_093.013 zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar pst_093.014 sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im pst_093.015 Gleichmaß des Verses hörbar wird. pst_093.016   Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als pst_093.017 es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht pst_093.018 erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern pst_093.019 er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie pst_093.020 der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt, pst_093.021 so, daß es uns vor Augen und eben deshalb pst_093.022 gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und pst_093.023 größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt: pst_093.024 «Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.» pst_093.025 Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht pst_093.026 seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina pst_093.027 des Archaischen bemüht. So gibt es in der «Ilias» zum pst_093.028 Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal, 1 pst_093.029 a. a. O. Bd. VI, S. 129.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/97
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/97>, abgerufen am 27.04.2024.