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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Was Tydeus vor Theben geleistet hat, das weiß sein pst_092.002
Sohn Diomedes längst. So hätte wohl eine kurze Erinnerung pst_092.003
an den tapferen Vater der Ungeduld Agamemnons pst_092.004
eher entsprochen. Wie aber könnte Homer der Versuchung pst_092.005
zu fabulieren je widerstehen? Ähnlich im sechsten pst_092.006
Gesang beim Abschied Hektors von Andromache pst_092.007
(407-434). Der Anfang von Andromaches Rede entspricht pst_092.008
durchaus ihrem bangen Gefühl. Sie malt sich pst_092.009
den Tod ihres Gatten aus. Sie stellt sich vor, wie sie pst_092.010
dann allein sei. Denn ihre Eltern sind beide tot. Den pst_092.011
Vater hat Achill erschlagen - da scheint Homer plötzlich pst_092.012
innezuhalten: Wie war das eigentlich mit Achill? Er pst_092.013
hat durchaus die Freiheit, jederzeit aufzubrechen, wohin pst_092.014
er will. Und also läßt er jetzt die schmerzbewegte pst_092.015
Frau ausführlich schildern, wie dies zugegangen ist, wie pst_092.016
Achill die Mutter gegen ein großes Lösegeld wieder freigab, pst_092.017
wie er dem Toten die Waffen ließ und einen Grabhügel pst_092.018
schichtete, den die Nymphen mit Ulmen bepflanzten. pst_092.019
Und erst nachdem sie auch das Schicksal ihrer pst_092.020
sieben Brüder erzählt hat, fährt sie, wieder bewegter, pst_092.021
fort:

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"Hektor, siehe du bist mir Vater jetzo und Mutter, pst_092.023
Und mein Bruder allein, und du mein blühender Gatte."
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Andromache schweift ab, weil Homer von der schmerzlichen pst_092.025
Stimmung nicht bedrängt ist oder doch wenigstens pst_092.026
nicht darin aufgeht.

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Der Abstand, den er nimmt, mag sich in manchen pst_092.028
Partien der Dichtung verringern. Ganz schwindet er pst_092.029
nie. Homer und Troia, Homer und die Irrfahrten des pst_092.030
Odysseus bleiben sich immer gegenüber. Man kann

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  Was Tydeus vor Theben geleistet hat, das weiß sein pst_092.002
Sohn Diomedes längst. So hätte wohl eine kurze Erinnerung pst_092.003
an den tapferen Vater der Ungeduld Agamemnons pst_092.004
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dann allein sei. Denn ihre Eltern sind beide tot. Den pst_092.011
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sieben Brüder erzählt hat, fährt sie, wieder bewegter, pst_092.021
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«Hektor, siehe du bist mir Vater jetzo und Mutter, pst_092.023
Und mein Bruder allein, und du mein blühender Gatte.»
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Andromache schweift ab, weil Homer von der schmerzlichen pst_092.025
Stimmung nicht bedrängt ist oder doch wenigstens pst_092.026
nicht darin aufgeht.

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  Der Abstand, den er nimmt, mag sich in manchen pst_092.028
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/96>, abgerufen am 27.04.2024.