pst_071.001 Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren.pst_071.002 Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift michpst_071.003 Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dempst_071.004 Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes."
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Vischer nennt dergleichen eine "Art dunkler Symbolik, pst_071.006 wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand pst_071.007 reflektiert"1. Wie in der Schilderung des Gefühls pst_071.008 und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen pst_071.009 genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit. pst_071.010 Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier pst_071.011 nicht sprechen dürfen, ebensowenig von "dunkler Symbolik". pst_071.012 So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich pst_071.013 scheidet. Doch jeder, der sagt: "Mir ist weh!" und pst_071.014 jeder, der "Tränen der Schmerzen und Freude" weint, pst_071.015 weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.
pst_071.016
Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe pst_071.017 "Körper" und "Leib" anbietet, ist eine Verständigung pst_071.018 wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum pst_071.019 Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich pst_071.020 außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar pst_071.021 verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt, pst_071.022 auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber pst_071.023 jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen pst_071.024 auf. Ganz anders aber Hamlets "Herzweh" oder der pst_071.025 Wollustschauer Sapphos. Solche "Sensationen" oder pst_071.026 "Gefühle" sind die leibliche Realität der Stimmung, pst_071.027 die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch pst_071.028 Schleiermachers bewährt: "Seele sein, heißt Leib haben".
1pst_071.029 a. a. O. Bd. VI, S. 204.
pst_071.001 Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren.pst_071.002 Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift michpst_071.003 Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dempst_071.004 Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes.»
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Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik, pst_071.006 wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand pst_071.007 reflektiert»1. Wie in der Schilderung des Gefühls pst_071.008 und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen pst_071.009 genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit. pst_071.010 Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier pst_071.011 nicht sprechen dürfen, ebensowenig von «dunkler Symbolik». pst_071.012 So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich pst_071.013 scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!» und pst_071.014 jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint, pst_071.015 weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.
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Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe pst_071.017 «Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung pst_071.018 wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum pst_071.019 Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich pst_071.020 außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar pst_071.021 verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt, pst_071.022 auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber pst_071.023 jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen pst_071.024 auf. Ganz anders aber Hamlets «Herzweh» oder der pst_071.025 Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen» oder pst_071.026 «Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung, pst_071.027 die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch pst_071.028 Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben».
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Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik, pst_071.006
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Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben».
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/75>, abgerufen am 16.07.2024.
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