Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_058.001 Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer pst_058.016 1 pst_058.030
Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f. pst_058.001 Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer pst_058.016 1 pst_058.030
Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0062" n="58"/><lb n="pst_058.001"/> Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude, in unsre <lb n="pst_058.002"/> Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern <lb n="pst_058.003"/> stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunkeln Majestät <lb n="pst_058.004"/> aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen, <lb n="pst_058.005"/> hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden <lb n="pst_058.006"/> konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung <lb n="pst_058.007"/> tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der <lb n="pst_058.008"/> Leichtsinnige grauset und zittert – nicht über Gedanken, <lb n="pst_058.009"/> sondern über Silben, über Töne der Kindheit; und es <lb n="pst_058.010"/> war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder <lb n="pst_058.011"/> zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung, <lb n="pst_058.012"/> das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: ‚Ton der <lb n="pst_058.013"/> Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben <lb n="pst_058.014"/> Ton versetzen! ‘»<note xml:id="PST_058_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_058.030"/> Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f.</note></p> <lb n="pst_058.015"/> <p> Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer <lb n="pst_058.016"/> verschwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und <lb n="pst_058.017"/> dem, wovon er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist <lb n="pst_058.018"/> «ich». Er sagt es aber anders als der Verfasser einer <lb n="pst_058.019"/> Selbstbiographie. Vom eigenen Leben erzählen kann <lb n="pst_058.020"/> man erst, wenn eine Epoche zurückliegt. Dann wird das <lb n="pst_058.021"/> Ich von höherer Warte aus überblickt und gestaltet. <lb n="pst_058.022"/> Der lyrische Dichter «gestaltet» sich so wenig, wie er <lb n="pst_058.023"/> sich «begreift». Die Worte «gestalten» und «begreifen» <lb n="pst_058.024"/> setzen ein Gegenüber voraus. Wenn jenes für <lb n="pst_058.025"/> selbstbiographische Darstellungen am Platz sein mag, <lb n="pst_058.026"/> so dieses vielleicht für ein Tagebuch, in dem ein Mensch <lb n="pst_058.027"/> sich Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt. <lb n="pst_058.028"/> Nur scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr <lb n="pst_058.029"/> gemessen wird, liegt das Thema hier näher als in der </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0062]
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Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude, in unsre pst_058.002
Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern pst_058.003
stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunkeln Majestät pst_058.004
aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen, pst_058.005
hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden pst_058.006
konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung pst_058.007
tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der pst_058.008
Leichtsinnige grauset und zittert – nicht über Gedanken, pst_058.009
sondern über Silben, über Töne der Kindheit; und es pst_058.010
war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder pst_058.011
zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung, pst_058.012
das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: ‚Ton der pst_058.013
Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben pst_058.014
Ton versetzen! ‘» 1
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Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer pst_058.016
verschwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und pst_058.017
dem, wovon er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist pst_058.018
«ich». Er sagt es aber anders als der Verfasser einer pst_058.019
Selbstbiographie. Vom eigenen Leben erzählen kann pst_058.020
man erst, wenn eine Epoche zurückliegt. Dann wird das pst_058.021
Ich von höherer Warte aus überblickt und gestaltet. pst_058.022
Der lyrische Dichter «gestaltet» sich so wenig, wie er pst_058.023
sich «begreift». Die Worte «gestalten» und «begreifen» pst_058.024
setzen ein Gegenüber voraus. Wenn jenes für pst_058.025
selbstbiographische Darstellungen am Platz sein mag, pst_058.026
so dieses vielleicht für ein Tagebuch, in dem ein Mensch pst_058.027
sich Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt. pst_058.028
Nur scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr pst_058.029
gemessen wird, liegt das Thema hier näher als in der
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Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f.
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