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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, pst_057.002
nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben pst_057.003
sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, pst_057.004
und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal pst_057.005
ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende pst_057.006
Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender pst_057.007
Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich pst_057.008
auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, pst_057.009
der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges pst_057.010
Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell pst_057.011
und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung pst_057.012
stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne pst_057.013
schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit pst_057.014
im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum pst_057.015
Raube wird1."

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Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder, pst_057.017
ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten pst_057.018
Worten beschreibt:

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"Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge pst_057.020
der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde pst_057.021
Stimme - was weiß ich mehr? Bei Kindern und pst_057.022
dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem pst_057.023
Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten, würken pst_057.024
sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken pst_057.025
würde, wenn ihr leise, feine Stimme vom Himmel pst_057.026
tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser pst_057.027
grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, pst_057.028
da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem pst_057.029
Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der

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Schillers Werke, vollständige historisch-kritische Ausgabe, Leipzig pst_057.031
1910, Bd. XVII, S. 402.

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dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, pst_057.002
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sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, pst_057.004
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ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten pst_057.018
Worten beschreibt:

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  «Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge pst_057.020
der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde pst_057.021
Stimme – was weiß ich mehr? Bei Kindern und pst_057.022
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/61>, abgerufen am 27.04.2024.