Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_055.001 5. pst_055.002 Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe pst_055.003 Dieser Satz will näher untersucht und durch neue pst_055.015 Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen pst_055.017 In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache pst_055.027 pst_055.001 5. pst_055.002 Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe pst_055.003 Dieser Satz will näher untersucht und durch neue pst_055.015 Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen pst_055.017 In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache pst_055.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0059" n="55"/> </div> <div n="2"> <lb n="pst_055.001"/> <head> <hi rendition="#c">5.</hi> </head> <lb n="pst_055.002"/> <p> Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe <lb n="pst_055.003"/> allen bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde <lb n="pst_055.004"/> liegt, so muß sich dies Eine als solches erweisen und <lb n="pst_055.005"/> nennen lassen. Einheit der Musik der Worte und ihrer <lb n="pst_055.006"/> Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne <lb n="pst_055.007"/> ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, <lb n="pst_055.008"/> gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer <lb n="pst_055.009"/> Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen <lb n="pst_055.010"/> und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der <lb n="pst_055.011"/> Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten <lb n="pst_055.012"/> erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer <lb n="pst_055.013"/> Dichtung keinerlei Abstand besteht.</p> <lb n="pst_055.014"/> <p> Dieser Satz will näher untersucht und durch neue <lb n="pst_055.015"/> Befunde ergänzt sein.</p> <lb n="pst_055.016"/> <p> Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen <lb n="pst_055.017"/> Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem <lb n="pst_055.018"/> Lyrischen eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es <lb n="pst_055.019"/> spricht uns an oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt, <lb n="pst_055.020"/> sofern wir uns in der gleichen Stimmung befinden. <lb n="pst_055.021"/> Dann klingen die Verse in uns auf, als kämen sie <lb n="pst_055.022"/> aus der eigenen Brust. Vor epischer und dramatischer <lb n="pst_055.023"/> Dichtung scheint eher Bewunderung am Platz. Der Anteil <lb n="pst_055.024"/> an lyrischer Poesie verdient den intimeren Namen <lb n="pst_055.025"/> Liebe.</p> <lb n="pst_055.026"/> <p> In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache <lb n="pst_055.027"/> größte Bedeutung. Musik wendet sich an das Gehör. Im <lb n="pst_055.028"/> Hören setzen wir uns jedoch dem Gehörten nicht eigentlich <lb n="pst_055.029"/> – nicht wie im Sehen, dem Gesehenen – gegenüber. <lb n="pst_055.030"/> Die Phänomenologie der Sinne ist zwar noch </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0059]
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5. pst_055.002
Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe pst_055.003
allen bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde pst_055.004
liegt, so muß sich dies Eine als solches erweisen und pst_055.005
nennen lassen. Einheit der Musik der Worte und ihrer pst_055.006
Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne pst_055.007
ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, pst_055.008
gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer pst_055.009
Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen pst_055.010
und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der pst_055.011
Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten pst_055.012
erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer pst_055.013
Dichtung keinerlei Abstand besteht.
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Dieser Satz will näher untersucht und durch neue pst_055.015
Befunde ergänzt sein.
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Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen pst_055.017
Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem pst_055.018
Lyrischen eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es pst_055.019
spricht uns an oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt, pst_055.020
sofern wir uns in der gleichen Stimmung befinden. pst_055.021
Dann klingen die Verse in uns auf, als kämen sie pst_055.022
aus der eigenen Brust. Vor epischer und dramatischer pst_055.023
Dichtung scheint eher Bewunderung am Platz. Der Anteil pst_055.024
an lyrischer Poesie verdient den intimeren Namen pst_055.025
Liebe.
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In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache pst_055.027
größte Bedeutung. Musik wendet sich an das Gehör. Im pst_055.028
Hören setzen wir uns jedoch dem Gehörten nicht eigentlich pst_055.029
– nicht wie im Sehen, dem Gesehenen – gegenüber. pst_055.030
Die Phänomenologie der Sinne ist zwar noch
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