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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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unbekümmert um die Zusammenhänge des pst_047.002
Raumes und der Zeit. Und wo die Bilder fester stehen, pst_047.003
wie in vielen Gedichten Gottfried Kellers, fühlen wir pst_047.004
uns schon weit vom innersten Kreis des Lyrischen abgerückt. pst_047.005
In Goethes Lied "An den Mond" fließt räumlich pst_047.006
und zeitlich Nächstes und Fernstes zusammen, nicht pst_047.007
anders in Mörikes "Im Frühling" und in der "Durchwachten pst_047.008
Nacht" der Droste. Wir nennen das Sprünge der pst_047.009
Einbildungskraft, so wie wir in der Sprache von grammatischen pst_047.010
Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch Sprünge pst_047.011
sind solche Bewegungen nur für die Anschauung und pst_047.012
den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern pst_047.013
sie gleitet. All das Entlegene ist in ihr so nahe beisammen, pst_047.014
wie es sich zeigt. Und der Verbindungsglieder bedarf pst_047.015
sie nicht, da alle Teile in der Stimmung bereits verbunden pst_047.016
sind.

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4.
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So wenig innerhalb eines Gedichts logische Fugen pst_047.019
nötig sind, so wenig bedarf das Ganze einer Begründung. pst_047.020
In epischer Dichtung muß Wann, Wo und Wer doch pst_047.021
einigermaßen klargestellt sein, bevor die Geschichte anheben pst_047.022
kann. Erst recht setzt der Dramatiker einen pst_047.023
Schauplatz voraus, und was an Begründung des Ganzen pst_047.024
noch mangelt, das trägt er nach. Auch ein Gedicht kann pst_047.025
zwar mit einer Art Exposition beginnen. Mörike zum pst_047.026
Beispiel teilt gern den Anlaß eines Gefühls mit:

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"Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel ..."
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Nötig ist dies aber nicht. Eichendorffs "Gärtner" beginnt pst_047.029
gleich mit dem vollen Geständnis der Liebe:

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unbekümmert um die Zusammenhänge des pst_047.002
Raumes und der Zeit. Und wo die Bilder fester stehen, pst_047.003
wie in vielen Gedichten Gottfried Kellers, fühlen wir pst_047.004
uns schon weit vom innersten Kreis des Lyrischen abgerückt. pst_047.005
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anders in Mörikes «Im Frühling» und in der «Durchwachten pst_047.008
Nacht» der Droste. Wir nennen das Sprünge der pst_047.009
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Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch Sprünge pst_047.011
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In epischer Dichtung muß Wann, Wo und Wer doch pst_047.021
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«Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel ...»
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/51>, abgerufen am 27.04.2024.