pst_046.001 zum Satz gehört, doch zum Verständnis entbehrlich ist. pst_046.002 Setzt man das Fehlende ein, so deckt sich die grammatische pst_046.003 Fügung des Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren pst_046.004 Beispielen aber wäre es unmöglich, etwas einzusetzen, pst_046.005 ohne den lyrischen Sinn zu fälschen.
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"Von fern im Land der Ströme Gang":
pst_046.007
Wird hier "rauscht" eingefügt, so gewinnt der Satz pst_046.008 schon eine Deutlichkeit, die der Meinung des Dichters pst_046.009 fern liegt. Und soll in der ersten Strophe von "Im pst_046.010 Grase" der Hauptsatz zu dem Wenn-Satz dadurch gewonnen pst_046.011 werden, daß wir ergänzen: "Süße Ruh ist im pst_046.012 Grase; tiefe Flut ist, wenn die Wolk' am Azure verraucht", pst_046.013 so leuchtet uns ein, daß der lyrische Ton gerade pst_046.014 diesem "ist" widerstrebt und daß auch dort, wo pst_046.015 der Dichter "ist" sagt, schwerlich ein Sein im Sinne des pst_046.016 bestehenden Daseins gemeint sein dürfte. Ohne den pessimistischen pst_046.017 Klang gilt für den Lyriker Werthers Wort: pst_046.018 "Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht ...?"
pst_046.019
Mit anderen Worten: Es gibt für den Lyriker keine pst_046.020 Substanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches. pst_046.021 Eine Frau hat keinen "Körper" für ihn, pst_046.022 nichts Widerständiges, keine Konturen. Sie hat vielleicht pst_046.023 eine Glut der Augen und einen Busen, der ihn pst_046.024 verwirrt, aber keine Brust im Sinne einer plastischen pst_046.025 Form und keine fest geprägte Physiognomie. Eine Landschaft pst_046.026 hat Farben und Lichter und Düfte, aber keinen pst_046.027 Boden, keine Erde als Fundament. Wenn wir deshalb pst_046.028 in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen, so dürfen pst_046.029 wir niemals an Gemälde, sondern höchstens an pst_046.030 Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen,
pst_046.001 zum Satz gehört, doch zum Verständnis entbehrlich ist. pst_046.002 Setzt man das Fehlende ein, so deckt sich die grammatische pst_046.003 Fügung des Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren pst_046.004 Beispielen aber wäre es unmöglich, etwas einzusetzen, pst_046.005 ohne den lyrischen Sinn zu fälschen.
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«Von fern im Land der Ströme Gang»:
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Wird hier «rauscht» eingefügt, so gewinnt der Satz pst_046.008 schon eine Deutlichkeit, die der Meinung des Dichters pst_046.009 fern liegt. Und soll in der ersten Strophe von «Im pst_046.010 Grase» der Hauptsatz zu dem Wenn-Satz dadurch gewonnen pst_046.011 werden, daß wir ergänzen: «Süße Ruh ist im pst_046.012 Grase; tiefe Flut ist, wenn die Wolk' am Azure verraucht», pst_046.013 so leuchtet uns ein, daß der lyrische Ton gerade pst_046.014 diesem «ist» widerstrebt und daß auch dort, wo pst_046.015 der Dichter «ist» sagt, schwerlich ein Sein im Sinne des pst_046.016 bestehenden Daseins gemeint sein dürfte. Ohne den pessimistischen pst_046.017 Klang gilt für den Lyriker Werthers Wort: pst_046.018 «Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht ...?»
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Mit anderen Worten: Es gibt für den Lyriker keine pst_046.020 Substanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches. pst_046.021 Eine Frau hat keinen «Körper» für ihn, pst_046.022 nichts Widerständiges, keine Konturen. Sie hat vielleicht pst_046.023 eine Glut der Augen und einen Busen, der ihn pst_046.024 verwirrt, aber keine Brust im Sinne einer plastischen pst_046.025 Form und keine fest geprägte Physiognomie. Eine Landschaft pst_046.026 hat Farben und Lichter und Düfte, aber keinen pst_046.027 Boden, keine Erde als Fundament. Wenn wir deshalb pst_046.028 in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen, so dürfen pst_046.029 wir niemals an Gemälde, sondern höchstens an pst_046.030 Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen,
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/50>, abgerufen am 16.02.2025.
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