Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_244.001
temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der pst_244.002
Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich.

pst_244.003
pst_244.004

Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich pst_244.005
schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten pst_244.006
scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann pst_244.007
steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit pst_244.008
temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich pst_244.009
vermutlich zeigen - was auch von Hölderlins Ode gilt - pst_244.010
daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen, pst_244.011
eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem pst_244.012
Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen? pst_244.013
Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so pst_244.014
schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge pst_244.015
auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich pst_244.016
der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der pst_244.017
Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen pst_244.018
verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes pst_244.019
in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen pst_244.020
Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im pst_244.021
Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal pst_244.022
des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier pst_244.023
einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt pst_244.024
und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und pst_244.025
wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches pst_244.026
von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren. pst_244.027
Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken pst_244.028
Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im pst_244.029
Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu pst_244.030
den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische pst_244.031
Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche

pst_244.001
temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der pst_244.002
Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich.

pst_244.003
pst_244.004

  Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich pst_244.005
schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten pst_244.006
scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann pst_244.007
steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit pst_244.008
temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich pst_244.009
vermutlich zeigen – was auch von Hölderlins Ode gilt – pst_244.010
daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen, pst_244.011
eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem pst_244.012
Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen? pst_244.013
Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so pst_244.014
schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge pst_244.015
auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich pst_244.016
der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der pst_244.017
Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen pst_244.018
verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes pst_244.019
in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen pst_244.020
Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im pst_244.021
Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal pst_244.022
des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier pst_244.023
einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt pst_244.024
und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und pst_244.025
wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches pst_244.026
von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren. pst_244.027
Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken pst_244.028
Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im pst_244.029
Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu pst_244.030
den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische pst_244.031
Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0248" n="244"/><lb n="pst_244.001"/>
temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der <lb n="pst_244.002"/>
Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich.</p>
        <lb n="pst_244.003"/>
        <lb n="pst_244.004"/>
        <p>  Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich <lb n="pst_244.005"/>
schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten <lb n="pst_244.006"/>
scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann <lb n="pst_244.007"/>
steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit <lb n="pst_244.008"/>
temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich <lb n="pst_244.009"/>
vermutlich zeigen &#x2013; was auch von Hölderlins Ode gilt &#x2013; <lb n="pst_244.010"/>
daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen, <lb n="pst_244.011"/>
eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem <lb n="pst_244.012"/>
Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen? <lb n="pst_244.013"/>
Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so <lb n="pst_244.014"/>
schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge <lb n="pst_244.015"/>
auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich <lb n="pst_244.016"/>
der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der <lb n="pst_244.017"/>
Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen <lb n="pst_244.018"/>
verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes <lb n="pst_244.019"/>
in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen <lb n="pst_244.020"/>
Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im <lb n="pst_244.021"/>
Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal <lb n="pst_244.022"/>
des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier <lb n="pst_244.023"/>
einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt <lb n="pst_244.024"/>
und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und <lb n="pst_244.025"/>
wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches <lb n="pst_244.026"/>
von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren. <lb n="pst_244.027"/>
Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken <lb n="pst_244.028"/>
Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im <lb n="pst_244.029"/>
Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu <lb n="pst_244.030"/>
den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische <lb n="pst_244.031"/>
Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[244/0248] pst_244.001 temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der pst_244.002 Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich. pst_244.003 pst_244.004   Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich pst_244.005 schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten pst_244.006 scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann pst_244.007 steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit pst_244.008 temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich pst_244.009 vermutlich zeigen – was auch von Hölderlins Ode gilt – pst_244.010 daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen, pst_244.011 eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem pst_244.012 Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen? pst_244.013 Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so pst_244.014 schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge pst_244.015 auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich pst_244.016 der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der pst_244.017 Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen pst_244.018 verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes pst_244.019 in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen pst_244.020 Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im pst_244.021 Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal pst_244.022 des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier pst_244.023 einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt pst_244.024 und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und pst_244.025 wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches pst_244.026 von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren. pst_244.027 Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken pst_244.028 Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im pst_244.029 Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu pst_244.030 den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische pst_244.031 Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/248
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/248>, abgerufen am 08.05.2024.