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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das, pst_232.002
wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem pst_232.003
ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert pst_232.004
und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch

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"... wenn wir unterschieden haben, pst_232.006
Dann müssen wir lebendige Gaben pst_232.007
Dem Abgesonderten wieder verleihn pst_232.008
Und uns eines Folge-Lebens erfreun."1
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Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte pst_232.010
auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet pst_232.011
werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein pst_232.012
Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern pst_232.013
Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt pst_232.014
- wie das griechische Wort khloros aus dem Farbenspektrum pst_232.015
ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte pst_232.016
unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.

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Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch - episch - dramatisch pst_232.018
zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität, pst_232.019
da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen pst_232.020
Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den pst_232.021
Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt, pst_232.022
so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben pst_232.023
Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der pst_232.024
Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den pst_232.025
gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt pst_232.026
ihn fort.

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"Hielte diesen frühen Segen pst_232.028
Ach, nur Eine Stunde fest! pst_232.029
Aber vollen Blütenregen
1 pst_232.030
Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283.

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Dem Abgesonderten wieder verleihn pst_232.008
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auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet pst_232.011
werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein pst_232.012
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ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte pst_232.016
unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.

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zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität, pst_232.019
da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen pst_232.020
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[232/0236] pst_232.001 menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das, pst_232.002 wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem pst_232.003 ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert pst_232.004 und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch pst_232.005 «... wenn wir unterschieden haben, pst_232.006 Dann müssen wir lebendige Gaben pst_232.007 Dem Abgesonderten wieder verleihn pst_232.008 Und uns eines Folge-Lebens erfreun.» 1 pst_232.009 Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte pst_232.010 auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet pst_232.011 werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein pst_232.012 Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern pst_232.013 Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt pst_232.014 – wie das griechische Wort χλωρός aus dem Farbenspektrum pst_232.015 ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte pst_232.016 unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint. pst_232.017   Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch – episch – dramatisch pst_232.018 zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität, pst_232.019 da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen pst_232.020 Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den pst_232.021 Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt, pst_232.022 so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben pst_232.023 Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der pst_232.024 Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den pst_232.025 gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt pst_232.026 ihn fort. pst_232.027 «Hielte diesen frühen Segen pst_232.028 Ach, nur Eine Stunde fest! pst_232.029 Aber vollen Blütenregen 1 pst_232.030 Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283.

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/236>, abgerufen am 08.05.2024.