Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_228.001
einer Landschaft in der Erinnerung; Geist ist die Funktionalität, pst_228.002
in der sich ein größeres Ganzes darstellt.

pst_228.003

Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen pst_228.004
Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit pst_228.005
Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen pst_228.006
gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen, pst_228.007
was man von jeher "Geist" oder "Seele" genannt hat, pst_228.008
eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen pst_228.009
Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen, pst_228.010
was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt pst_228.011
des Geistes, ein "ungehöriger" allerdings, weil er bezieht, pst_228.012
was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist pst_228.013
kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele pst_228.014
zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung pst_228.015
des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele pst_228.016
wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle pst_228.017
Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die pst_228.018
als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben pst_228.019
worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht pst_228.020
vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die pst_228.021
Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche pst_228.022
Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche pst_228.023
Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem pst_228.024
Epigramm:

pst_228.025
"Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pst_228.026
pst_228.027
Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele pst_228.028
nicht mehr"
pst_228.029

ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt. pst_228.030
Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber

pst_228.001
einer Landschaft in der Erinnerung; Geist ist die Funktionalität, pst_228.002
in der sich ein größeres Ganzes darstellt.

pst_228.003

  Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen pst_228.004
Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit pst_228.005
Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen pst_228.006
gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen, pst_228.007
was man von jeher «Geist» oder «Seele» genannt hat, pst_228.008
eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen pst_228.009
Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen, pst_228.010
was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt pst_228.011
des Geistes, ein «ungehöriger» allerdings, weil er bezieht, pst_228.012
was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist pst_228.013
kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele pst_228.014
zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung pst_228.015
des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele pst_228.016
wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle pst_228.017
Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die pst_228.018
als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben pst_228.019
worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht pst_228.020
vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die pst_228.021
Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche pst_228.022
Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche pst_228.023
Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem pst_228.024
Epigramm:

pst_228.025
«Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pst_228.026
pst_228.027
  Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele pst_228.028
nicht mehr»
pst_228.029

ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt. pst_228.030
Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0232" n="228"/><lb n="pst_228.001"/>
einer Landschaft in der Erinnerung; Geist <hi rendition="#g">ist</hi> die Funktionalität, <lb n="pst_228.002"/>
in der sich ein größeres Ganzes darstellt.</p>
        <lb n="pst_228.003"/>
        <p>  Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen <lb n="pst_228.004"/>
Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit <lb n="pst_228.005"/>
Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen <lb n="pst_228.006"/>
gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen, <lb n="pst_228.007"/>
was man von jeher «Geist» oder «Seele» genannt hat, <lb n="pst_228.008"/>
eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen <lb n="pst_228.009"/>
Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen, <lb n="pst_228.010"/>
was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt <lb n="pst_228.011"/>
des Geistes, ein «ungehöriger» allerdings, weil er bezieht, <lb n="pst_228.012"/>
was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist <lb n="pst_228.013"/>
kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele <lb n="pst_228.014"/>
zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung <lb n="pst_228.015"/>
des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele <lb n="pst_228.016"/>
wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle <lb n="pst_228.017"/>
Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die <lb n="pst_228.018"/>
als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben <lb n="pst_228.019"/>
worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht <lb n="pst_228.020"/>
vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die <lb n="pst_228.021"/>
Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche <lb n="pst_228.022"/>
Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche <lb n="pst_228.023"/>
Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem <lb n="pst_228.024"/>
Epigramm:</p>
        <lb n="pst_228.025"/>
        <lg>
          <l>«Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht er<hi rendition="#et">scheinen?</hi></l>
          <lb n="pst_228.026"/>
          <lb n="pst_228.027"/>
          <l>  <hi rendition="#g">Spricht</hi> die Seele, so spricht, ach, schon die <hi rendition="#g">Seele</hi></l>
          <lb n="pst_228.028"/>
          <l> <hi rendition="#et">nicht mehr»</hi> </l>
        </lg>
        <lb n="pst_228.029"/>
        <p>ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt. <lb n="pst_228.030"/>
Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0232] pst_228.001 einer Landschaft in der Erinnerung; Geist ist die Funktionalität, pst_228.002 in der sich ein größeres Ganzes darstellt. pst_228.003   Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen pst_228.004 Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit pst_228.005 Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen pst_228.006 gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen, pst_228.007 was man von jeher «Geist» oder «Seele» genannt hat, pst_228.008 eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen pst_228.009 Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen, pst_228.010 was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt pst_228.011 des Geistes, ein «ungehöriger» allerdings, weil er bezieht, pst_228.012 was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist pst_228.013 kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele pst_228.014 zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung pst_228.015 des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele pst_228.016 wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle pst_228.017 Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die pst_228.018 als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben pst_228.019 worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht pst_228.020 vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die pst_228.021 Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche pst_228.022 Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche pst_228.023 Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem pst_228.024 Epigramm: pst_228.025 «Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? pst_228.026 pst_228.027   Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele pst_228.028 nicht mehr» pst_228.029 ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt. pst_228.030 Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/232
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/232>, abgerufen am 08.05.2024.