pst_019.001 bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische pst_019.002 Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte pst_019.003 achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende pst_019.004 selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die pst_019.005 Rede ist. Liebe - Tod - Wasser, irgendein holdes Ungefähr pst_019.006 genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos pst_019.007 fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt, pst_019.008 wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden. pst_019.009 Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks pst_019.010 nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen pst_019.011 gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik pst_019.012 der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein, pst_019.013 sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik pst_019.014 aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich pst_019.015 mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. pst_019.016 Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen pst_019.017 einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht pst_019.018 gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der pst_019.019 auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder pst_019.020 dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die pst_019.021 Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches pst_019.022 ausgelassen:
pst_019.023
"Viel Wandrer lustig schwenkenpst_019.024 Die Hüt' im Morgenstrahl ..."
pst_019.025 "Weg, du Traum! so gold du bist;pst_019.026 Hier auch Lieb und Leben ist ..."
pst_019.027 "Was soll all der Schmerz und Lust?"
pst_019.028
In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen pst_019.029 nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen
pst_019.001 bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische pst_019.002 Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte pst_019.003 achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende pst_019.004 selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die pst_019.005 Rede ist. Liebe – Tod – Wasser, irgendein holdes Ungefähr pst_019.006 genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos pst_019.007 fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt, pst_019.008 wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden. pst_019.009 Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks pst_019.010 nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen pst_019.011 gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik pst_019.012 der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein, pst_019.013 sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik pst_019.014 aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich pst_019.015 mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt. pst_019.016 Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen pst_019.017 einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht pst_019.018 gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der pst_019.019 auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder pst_019.020 dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die pst_019.021 Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches pst_019.022 ausgelassen:
pst_019.023
«Viel Wandrer lustig schwenkenpst_019.024 Die Hüt' im Morgenstrahl ...»
pst_019.025 «Weg, du Traum! so gold du bist;pst_019.026 Hier auch Lieb und Leben ist ...»
pst_019.027 «Was soll all der Schmerz und Lust?»
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/23>, abgerufen am 16.07.2024.
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