Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_222.001 "Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und pst_222.004 pst_222.005pfeifen." Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung pst_222.006 "Da hört' ich - geigen, pfeifen! Frohe Menschen - und pst_222.013 pst_222.014fühlte mich geborgen." Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität pst_222.015 Die Reihe Silbe - Wort - Satz erklärt nun aber auch, pst_222.022 pst_222.001 «Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und pst_222.004 pst_222.005pfeifen.» Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung pst_222.006 «Da hört' ich – geigen, pfeifen! Frohe Menschen – und pst_222.013 pst_222.014fühlte mich geborgen.» Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität pst_222.015 Die Reihe Silbe – Wort – Satz erklärt nun aber auch, pst_222.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0226" n="222"/><lb n="pst_222.001"/> mehr nüchternen, epischen Verserzählung stehen, etwa <lb n="pst_222.002"/> in einem Hexameter:</p> <lb n="pst_222.003"/> <lg> <l>«Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und</l> <lb n="pst_222.004"/> <l> <hi rendition="#et">pfeifen.»</hi> </l> </lg> <lb n="pst_222.005"/> <p>Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung <lb n="pst_222.006"/> der Musik erweckt. Die Vorstellung ihrerseits würde <lb n="pst_222.007"/> zur Funktion eines übergeordneten Ganzen, wenn es <lb n="pst_222.008"/> etwa darum ginge, daß ein bedrohter Wanderer, der <lb n="pst_222.009"/> ängstlich seines Weges zieht, etwas Unbestimmtes im <lb n="pst_222.010"/> Dunkel erblickt, mit Spannung lauscht und später von <lb n="pst_222.011"/> diesem Augenblick mit den Worten erzählt:</p> <lb n="pst_222.012"/> <lg> <l>«Da hört' ich – geigen, pfeifen! Frohe Menschen – und</l> <lb n="pst_222.013"/> <l> <hi rendition="#et">fühlte mich geborgen.»</hi> </l> </lg> <lb n="pst_222.014"/> <p> Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität <lb n="pst_222.015"/> an so einfachen Beispielen deutlich zu machen, <lb n="pst_222.016"/> wie es andrerseits schwierig wäre, hypotaktischen Satzgefügen <lb n="pst_222.017"/> lyrische Reize abzugewinnen. Das Beispiel fördere <lb n="pst_222.018"/> nur die Einsicht, daß die Stilistik Grund hat, neben <lb n="pst_222.019"/> dem äußerlich Wahrnehmbaren den nicht nachweisbaren <lb n="pst_222.020"/> Ton zu beachten.</p> <lb n="pst_222.021"/> <p> Die Reihe Silbe – Wort – Satz erklärt nun aber auch, <lb n="pst_222.022"/> warum die Gattungen in der Folge lyrisch – episch – <lb n="pst_222.023"/> dramatisch aufgeführt wurden. Die später genannten <lb n="pst_222.024"/> Gattungen sind auf die früheren angewiesen. Ich kann <lb n="pst_222.025"/> wohl Silben bilden – und tue es auch, als Kind oder im <lb n="pst_222.026"/> Affekt – ohne dabei ein Wort zu sagen und einen Gegenstand <lb n="pst_222.027"/> zu bezeichnen. Aber ich kann kein Wort aussprechen, <lb n="pst_222.028"/> ohne zugleich eine Silbe zu bilden, und ebenso <lb n="pst_222.029"/> keinen Satz formulieren, ohne einzelne Wörter und mit <lb n="pst_222.030"/> den Wörtern Silben zu gebrauchen. So ist die dramatische </p> </div> </body> </text> </TEI> [222/0226]
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mehr nüchternen, epischen Verserzählung stehen, etwa pst_222.002
in einem Hexameter:
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«Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und pst_222.004
pfeifen.»
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Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung pst_222.006
der Musik erweckt. Die Vorstellung ihrerseits würde pst_222.007
zur Funktion eines übergeordneten Ganzen, wenn es pst_222.008
etwa darum ginge, daß ein bedrohter Wanderer, der pst_222.009
ängstlich seines Weges zieht, etwas Unbestimmtes im pst_222.010
Dunkel erblickt, mit Spannung lauscht und später von pst_222.011
diesem Augenblick mit den Worten erzählt:
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«Da hört' ich – geigen, pfeifen! Frohe Menschen – und pst_222.013
fühlte mich geborgen.»
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Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität pst_222.015
an so einfachen Beispielen deutlich zu machen, pst_222.016
wie es andrerseits schwierig wäre, hypotaktischen Satzgefügen pst_222.017
lyrische Reize abzugewinnen. Das Beispiel fördere pst_222.018
nur die Einsicht, daß die Stilistik Grund hat, neben pst_222.019
dem äußerlich Wahrnehmbaren den nicht nachweisbaren pst_222.020
Ton zu beachten.
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Die Reihe Silbe – Wort – Satz erklärt nun aber auch, pst_222.022
warum die Gattungen in der Folge lyrisch – episch – pst_222.023
dramatisch aufgeführt wurden. Die später genannten pst_222.024
Gattungen sind auf die früheren angewiesen. Ich kann pst_222.025
wohl Silben bilden – und tue es auch, als Kind oder im pst_222.026
Affekt – ohne dabei ein Wort zu sagen und einen Gegenstand pst_222.027
zu bezeichnen. Aber ich kann kein Wort aussprechen, pst_222.028
ohne zugleich eine Silbe zu bilden, und ebenso pst_222.029
keinen Satz formulieren, ohne einzelne Wörter und mit pst_222.030
den Wörtern Silben zu gebrauchen. So ist die dramatische
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