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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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VOM GRUND DER POETISCHEN pst_219.002
GATTUNGSBEGRIFFE
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Die Aufgabe der ersten drei Abschnitte war, die poetischen pst_219.004
Gattungen zu scheiden und jede für sich herauszuarbeiten. pst_219.005
Sie ließ sich nur in unbeirrbarer Ideation pst_219.006
erfüllen, das heißt so, daß an Dichtungen lyrische, epische pst_219.007
und dramatische Züge im Hinblick auf a priori erfaßte pst_219.008
Ideen abgelesen wurden. Es läge nahe, dieses Verfahren pst_219.009
mit Goethes Typologie zu vergleichen. In einem pst_219.010
Brief an Sömmering vom 28. August 1796 heißt es:

pst_219.011

"Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist pst_219.012
gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese pst_219.013
zu fassen, um sie mir eigen zu machen."

pst_219.014

Das Organ wird nicht aus der Erfahrung, aber wohl pst_219.015
an ihr und durch sie gebildet, so wie das Auge durch pst_219.016
Licht zum Licht, der Adler durch Luft zur Luft gebildet pst_219.017
und ausgestattet erscheint. Die Idee der Urpflanze pst_219.018
ist ein Organ, das Mannigfaltige der Pflanzenwelt zu erfassen; pst_219.019
die Idee des osteologischen Typus erlaubt, die pst_219.020
Tierwelt zu übersehen. Im Sinn eines solchen a priori pst_219.021
möchte auch die Idee des Lyrischen, Epischen und Dramatischen pst_219.022
gelten.

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Allein, nun ist das Verhältnis der einzelnen Dichtung pst_219.024
zur Gattungsidee ein anderes als das der einzelnen pst_219.025
Pflanze zur Urpflanze, des einzelnen Tiers zum Typus pst_219.026
des Tiers. Keine einzelne Pflanze stellt zwar rein den

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GATTUNGSBEGRIFFE
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Die Aufgabe der ersten drei Abschnitte war, die poetischen pst_219.004
Gattungen zu scheiden und jede für sich herauszuarbeiten. pst_219.005
Sie ließ sich nur in unbeirrbarer Ideation pst_219.006
erfüllen, das heißt so, daß an Dichtungen lyrische, epische pst_219.007
und dramatische Züge im Hinblick auf a priori erfaßte pst_219.008
Ideen abgelesen wurden. Es läge nahe, dieses Verfahren pst_219.009
mit Goethes Typologie zu vergleichen. In einem pst_219.010
Brief an Sömmering vom 28. August 1796 heißt es:

pst_219.011

  «Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist pst_219.012
gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese pst_219.013
zu fassen, um sie mir eigen zu machen.»

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  Das Organ wird nicht aus der Erfahrung, aber wohl pst_219.015
an ihr und durch sie gebildet, so wie das Auge durch pst_219.016
Licht zum Licht, der Adler durch Luft zur Luft gebildet pst_219.017
und ausgestattet erscheint. Die Idee der Urpflanze pst_219.018
ist ein Organ, das Mannigfaltige der Pflanzenwelt zu erfassen; pst_219.019
die Idee des osteologischen Typus erlaubt, die pst_219.020
Tierwelt zu übersehen. Im Sinn eines solchen a priori pst_219.021
möchte auch die Idee des Lyrischen, Epischen und Dramatischen pst_219.022
gelten.

pst_219.023

  Allein, nun ist das Verhältnis der einzelnen Dichtung pst_219.024
zur Gattungsidee ein anderes als das der einzelnen pst_219.025
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/223>, abgerufen am 08.05.2024.