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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Lautspiel, bei dem sich unser Spieltrieb freilich so amüsiert, pst_217.002
daß wir auf die erhoffte Entscheidung vorläufig pst_217.003
verzichten können. So landen wir ungezählte Male, im pst_217.004
Widerspruch zum dramatischen Zweck, bei dem, was pst_217.005
wesentlich zwecklos, doch ohne Zweifel höchst befriedigend pst_217.006
ist.

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Je mehr ein Dichter zum Komischen neigt, desto pst_217.008
eher wird er versucht sein, dramatische Spannung nur pst_217.009
als Ausgangslage des Lachens zu erzeugen und sich in pst_217.010
lauter lächerlichen Einzelheiten zu verzetteln. Aristophanes, pst_217.011
Plautus, Shakespeare in seinen derbsten Stükken, pst_217.012
Moliere in den Farcen, Gryphius, Raimund gebärden pst_217.013
sich hier ganz hemmungslos. Doch immer wieder pst_217.014
wird die Komödie hochliterarisch reformiert. Dann pst_217.015
setzt sich jener Typus durch, in dem die einheitliche pst_217.016
Spannung durchhält, das Lächerliche aber nur noch pst_217.017
leise an den Rändern der Handlung spielt, der Typus, pst_217.018
den in deutscher Sprache am reinsten "Minna von Barnhelm" pst_217.019
verwirklicht. Einzigartig aber ist Kleists Komödie pst_217.020
"Der zerbrochene Krug". Die Form des Gerichts pst_217.021
garantiert von Anfang bis zum Schluß den dramatischen pst_217.022
Zug. Der Richter ist selbst der Schuldige und deshalb pst_217.023
eifrig bemüht, von dem, worauf es ankommt, abzulenken. pst_217.024
Die Komik seiner Diversionen und Ausreden wird pst_217.025
zum Widerstand, den der Gerichtsrat Walter brechen pst_217.026
muß. Der Widerstand steigert wieder die Spannung. pst_217.027
Eins spielt dem anderen in die Hände. Es ist das geistreichste pst_217.028
Spiel, das je der Sinn eines Bühnendichters erdacht, pst_217.029
im Komischen so vollendet wie im Tragischen pst_217.030
"König Ödipus".

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Wir werden uns nicht darüber verwundern, daß

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Lautspiel, bei dem sich unser Spieltrieb freilich so amüsiert, pst_217.002
daß wir auf die erhoffte Entscheidung vorläufig pst_217.003
verzichten können. So landen wir ungezählte Male, im pst_217.004
Widerspruch zum dramatischen Zweck, bei dem, was pst_217.005
wesentlich zwecklos, doch ohne Zweifel höchst befriedigend pst_217.006
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  Je mehr ein Dichter zum Komischen neigt, desto pst_217.008
eher wird er versucht sein, dramatische Spannung nur pst_217.009
als Ausgangslage des Lachens zu erzeugen und sich in pst_217.010
lauter lächerlichen Einzelheiten zu verzetteln. Aristophanes, pst_217.011
Plautus, Shakespeare in seinen derbsten Stükken, pst_217.012
Molière in den Farcen, Gryphius, Raimund gebärden pst_217.013
sich hier ganz hemmungslos. Doch immer wieder pst_217.014
wird die Komödie hochliterarisch reformiert. Dann pst_217.015
setzt sich jener Typus durch, in dem die einheitliche pst_217.016
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leise an den Rändern der Handlung spielt, der Typus, pst_217.018
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verwirklicht. Einzigartig aber ist Kleists Komödie pst_217.020
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garantiert von Anfang bis zum Schluß den dramatischen pst_217.022
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eifrig bemüht, von dem, worauf es ankommt, abzulenken. pst_217.024
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  Wir werden uns nicht darüber verwundern, daß

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/221>, abgerufen am 08.05.2024.