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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Mensch bei allem Erkennen, bei allem Erleben voraus pst_211.002
ist. Diese Erwartung wird aber nicht in nichts aufgelöst pst_211.003
- das wäre Enttäuschung - sondern sie fällt dahin, pst_211.004
weil etwas sichtbar wird, das unmittelbarer, zusammenhangloser pst_211.005
existiert.

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Aus "erspartem Aufwand" hat Sigmund Freud das pst_211.007
Behagen des Lachens erklärt1.

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Friedrich Theodor Vischer versucht, die "Erwartung" pst_211.009
des nähern so zu bestimmen, daß er erklärt, sie sei veranlaßt pst_211.010
"durch ein sich ankündigendes, in mehr oder pst_211.011
minder pathetischem Schwung begriffenes Erhabene"2. pst_211.012
Aufgelöst werde sie durch "das Bagatell eines bloß der pst_211.013
niedern Erscheinungswelt angehörenden Dings, das diesem pst_211.014
Erhabenen, vorher verborgen, nun auf einmal pst_211.015
unter die Beine gerät und es zu Falle bringt."

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Damit wird die Erwartung aber nun offenbar zu eng pst_211.017
bestimmt. Die Komik des "Don Quijote" zwar und was pst_211.018
ihr ähnlich ist, klärt sich so auf. Bei vielen Streichen pst_211.019
Eulenspiegels dagegen ist die Erwartung nicht erhaben, pst_211.020
sondern höchstens vernünftig. Vischer betrachtet also pst_211.021
nur die freilich besonders ergiebige Möglichkeit, daß pst_211.022
Gelächter aus der Ersparung eines erhabenen Entwurfs pst_211.023
entsteht.

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Schopenhauer deutet das Lachen aus der "Wahrnehmung pst_211.025
der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten". pst_211.026
Im zweiten Teil der "Welt als Wille und Vorstellung" pst_211.027
stehen die folgenden Sätze:

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"Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit pst_211.029
zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten behält

1 pst_211.030
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 4. Aufl. Leipzig 1925.
2 pst_211.031
Über das Erhabene und das Komische, Stuttgart 1837, S. 158.

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weil etwas sichtbar wird, das unmittelbarer, zusammenhangloser pst_211.005
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  Aus «erspartem Aufwand» hat Sigmund Freud das pst_211.007
Behagen des Lachens erklärt1.

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  Friedrich Theodor Vischer versucht, die «Erwartung» pst_211.009
des nähern so zu bestimmen, daß er erklärt, sie sei veranlaßt pst_211.010
«durch ein sich ankündigendes, in mehr oder pst_211.011
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Aufgelöst werde sie durch «das Bagatell eines bloß der pst_211.013
niedern Erscheinungswelt angehörenden Dings, das diesem pst_211.014
Erhabenen, vorher verborgen, nun auf einmal pst_211.015
unter die Beine gerät und es zu Falle bringt.»

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bestimmt. Die Komik des «Don Quijote» zwar und was pst_211.018
ihr ähnlich ist, klärt sich so auf. Bei vielen Streichen pst_211.019
Eulenspiegels dagegen ist die Erwartung nicht erhaben, pst_211.020
sondern höchstens vernünftig. Vischer betrachtet also pst_211.021
nur die freilich besonders ergiebige Möglichkeit, daß pst_211.022
Gelächter aus der Ersparung eines erhabenen Entwurfs pst_211.023
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Im zweiten Teil der «Welt als Wille und Vorstellung» pst_211.027
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  «Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit pst_211.029
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/215>, abgerufen am 08.05.2024.