Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_205.001 Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um pst_205.014 Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an, pst_205.028 1 pst_205.030
An Schiller, 9. Dezember 1797. pst_205.001 Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um pst_205.014 Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an, pst_205.028 1 pst_205.030
An Schiller, 9. Dezember 1797. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0209" n="205"/><lb n="pst_205.001"/> durchgeführt werden. Ein Ödipus, der von Gerechtigkeit <lb n="pst_205.002"/> träumte, die Hände im Schoß gefaltet, fände den <lb n="pst_205.003"/> tragischen Widerspruch zwischen dem menschlichen <lb n="pst_205.004"/> Recht und den Göttern nie heraus. Sein Pathos aber <lb n="pst_205.005"/> nötigt ihn, die Probe zu machen. Durch die Tat gewinnt <lb n="pst_205.006"/> er die entsetzliche Einsicht, wie Homburg die <lb n="pst_205.007"/> Einsicht durch die Folgen der Schlacht von Fehrbellin <lb n="pst_205.008"/> gewinnt. Die Tat erprobt das Vor-urteil. Erklärt die Gegenwart <lb n="pst_205.009"/> sich dagegen, macht sich ein Übersehenes geltend, <lb n="pst_205.010"/> so ist das dramatische Handeln tragisch. Der tragische <lb n="pst_205.011"/> Mensch hat den Mut zur Schuld, die schon im <lb n="pst_205.012"/> Wesen des Menschen besteht.</p> <lb n="pst_205.013"/> <p> Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um <lb n="pst_205.014"/> ein Letztes und Höchstes gehen muß, woran der Mensch <lb n="pst_205.015"/> als solcher gebunden ist. Wallenstein, dem die Sterne <lb n="pst_205.016"/> gelogen, hat aufgehört, Wallenstein zu sein. Er mag <lb n="pst_205.017"/> sich bei Octavios Verrat noch einreden, daß dies «wider <lb n="pst_205.018"/> Sternenlauf und Schicksal» geschehen sei. Sein folgerichtiger <lb n="pst_205.019"/> Geist hat keine Ruhe mehr, und wenn die <lb n="pst_205.020"/> Lanze des Mörders im Dunkel vor ihm aufblitzt, wenn <lb n="pst_205.021"/> er den Trug endgültig durchschaut, so ist er vernichtet, <lb n="pst_205.022"/> bevor sie ihn trifft. Ebenso ist Meister Anton in Hebbels <lb n="pst_205.023"/> «Maria Magdalene» nicht mehr er selbst, wenn die Tugend <lb n="pst_205.024"/> des Bürgers vor seinen Augen zuschanden wird. <lb n="pst_205.025"/> Er «versteht die Welt nicht mehr». Was kann er künftig <lb n="pst_205.026"/> noch sinnen und tun?</p> <lb n="pst_205.027"/> <p> Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an, <lb n="pst_205.028"/> die Goethe gefühlt<note xml:id="PST_205_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_205.030"/> An Schiller, 9. Dezember 1797.</note>, die sich im Untergang Kleists bewährt <lb n="pst_205.029"/> hat. Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [205/0209]
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durchgeführt werden. Ein Ödipus, der von Gerechtigkeit pst_205.002
träumte, die Hände im Schoß gefaltet, fände den pst_205.003
tragischen Widerspruch zwischen dem menschlichen pst_205.004
Recht und den Göttern nie heraus. Sein Pathos aber pst_205.005
nötigt ihn, die Probe zu machen. Durch die Tat gewinnt pst_205.006
er die entsetzliche Einsicht, wie Homburg die pst_205.007
Einsicht durch die Folgen der Schlacht von Fehrbellin pst_205.008
gewinnt. Die Tat erprobt das Vor-urteil. Erklärt die Gegenwart pst_205.009
sich dagegen, macht sich ein Übersehenes geltend, pst_205.010
so ist das dramatische Handeln tragisch. Der tragische pst_205.011
Mensch hat den Mut zur Schuld, die schon im pst_205.012
Wesen des Menschen besteht.
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Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um pst_205.014
ein Letztes und Höchstes gehen muß, woran der Mensch pst_205.015
als solcher gebunden ist. Wallenstein, dem die Sterne pst_205.016
gelogen, hat aufgehört, Wallenstein zu sein. Er mag pst_205.017
sich bei Octavios Verrat noch einreden, daß dies «wider pst_205.018
Sternenlauf und Schicksal» geschehen sei. Sein folgerichtiger pst_205.019
Geist hat keine Ruhe mehr, und wenn die pst_205.020
Lanze des Mörders im Dunkel vor ihm aufblitzt, wenn pst_205.021
er den Trug endgültig durchschaut, so ist er vernichtet, pst_205.022
bevor sie ihn trifft. Ebenso ist Meister Anton in Hebbels pst_205.023
«Maria Magdalene» nicht mehr er selbst, wenn die Tugend pst_205.024
des Bürgers vor seinen Augen zuschanden wird. pst_205.025
Er «versteht die Welt nicht mehr». Was kann er künftig pst_205.026
noch sinnen und tun?
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Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an, pst_205.028
die Goethe gefühlt 1, die sich im Untergang Kleists bewährt pst_205.029
hat. Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt
1 pst_205.030
An Schiller, 9. Dezember 1797.
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