pst_205.001 durchgeführt werden. Ein Ödipus, der von Gerechtigkeit pst_205.002 träumte, die Hände im Schoß gefaltet, fände den pst_205.003 tragischen Widerspruch zwischen dem menschlichen pst_205.004 Recht und den Göttern nie heraus. Sein Pathos aber pst_205.005 nötigt ihn, die Probe zu machen. Durch die Tat gewinnt pst_205.006 er die entsetzliche Einsicht, wie Homburg die pst_205.007 Einsicht durch die Folgen der Schlacht von Fehrbellin pst_205.008 gewinnt. Die Tat erprobt das Vor-urteil. Erklärt die Gegenwart pst_205.009 sich dagegen, macht sich ein Übersehenes geltend, pst_205.010 so ist das dramatische Handeln tragisch. Der tragische pst_205.011 Mensch hat den Mut zur Schuld, die schon im pst_205.012 Wesen des Menschen besteht.
pst_205.013
Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um pst_205.014 ein Letztes und Höchstes gehen muß, woran der Mensch pst_205.015 als solcher gebunden ist. Wallenstein, dem die Sterne pst_205.016 gelogen, hat aufgehört, Wallenstein zu sein. Er mag pst_205.017 sich bei Octavios Verrat noch einreden, daß dies "wider pst_205.018 Sternenlauf und Schicksal" geschehen sei. Sein folgerichtiger pst_205.019 Geist hat keine Ruhe mehr, und wenn die pst_205.020 Lanze des Mörders im Dunkel vor ihm aufblitzt, wenn pst_205.021 er den Trug endgültig durchschaut, so ist er vernichtet, pst_205.022 bevor sie ihn trifft. Ebenso ist Meister Anton in Hebbels pst_205.023 "Maria Magdalene" nicht mehr er selbst, wenn die Tugend pst_205.024 des Bürgers vor seinen Augen zuschanden wird. pst_205.025 Er "versteht die Welt nicht mehr". Was kann er künftig pst_205.026 noch sinnen und tun?
pst_205.027
Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an, pst_205.028 die Goethe gefühlt1, die sich im Untergang Kleists bewährt pst_205.029 hat. Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt
1pst_205.030 An Schiller, 9. Dezember 1797.
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/209>, abgerufen am 16.02.2025.
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