Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_191.001
sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen. pst_191.002
Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich pst_191.003
untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft. pst_191.004
Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft, pst_191.005
ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt pst_191.006
bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich pst_191.007
nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist pst_191.008
beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht. pst_191.009
Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er pst_191.010
der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten pst_191.011
Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus, pst_191.012
bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von pst_191.013
Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem pst_191.014
Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt pst_191.015
war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein pst_191.016
feststand, kommt alles an.

pst_191.017

Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische pst_191.018
und problematische, finden sich auch unter pst_191.019
diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen. pst_191.020
Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß, pst_191.021
entschließt sich und schreitet sodann zur Tat. pst_191.022
Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch pst_191.023
nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt. pst_191.024
Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans pst_191.025
Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren pst_191.026
Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber pst_191.027
auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden pst_191.028
oder mildernden Umständen etwa in pst_191.029
Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden pst_191.030
und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert. pst_191.031
Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine

pst_191.001
sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen. pst_191.002
Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich pst_191.003
untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft. pst_191.004
Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft, pst_191.005
ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt pst_191.006
bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich pst_191.007
nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist pst_191.008
beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht. pst_191.009
Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er pst_191.010
der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten pst_191.011
Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus, pst_191.012
bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von pst_191.013
Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem pst_191.014
Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt pst_191.015
war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein pst_191.016
feststand, kommt alles an.

pst_191.017

  Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische pst_191.018
und problematische, finden sich auch unter pst_191.019
diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen. pst_191.020
Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß, pst_191.021
entschließt sich und schreitet sodann zur Tat. pst_191.022
Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch pst_191.023
nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt. pst_191.024
Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans pst_191.025
Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren pst_191.026
Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber pst_191.027
auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden pst_191.028
oder mildernden Umständen etwa in pst_191.029
Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden pst_191.030
und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert. pst_191.031
Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0195" n="191"/><lb n="pst_191.001"/>
sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen. <lb n="pst_191.002"/>
Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich <lb n="pst_191.003"/>
untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft. <lb n="pst_191.004"/>
Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft, <lb n="pst_191.005"/>
ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt <lb n="pst_191.006"/>
bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich <lb n="pst_191.007"/>
nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist <lb n="pst_191.008"/>
beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht. <lb n="pst_191.009"/>
Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er <lb n="pst_191.010"/>
der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten <lb n="pst_191.011"/>
Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus, <lb n="pst_191.012"/>
bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von <lb n="pst_191.013"/>
Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem <lb n="pst_191.014"/>
Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt <lb n="pst_191.015"/>
war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein <lb n="pst_191.016"/>
feststand, kommt alles an.</p>
          <lb n="pst_191.017"/>
          <p>  Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische <lb n="pst_191.018"/>
und problematische, finden sich auch unter <lb n="pst_191.019"/>
diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen. <lb n="pst_191.020"/>
Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß, <lb n="pst_191.021"/>
entschließt sich und schreitet sodann zur Tat. <lb n="pst_191.022"/>
Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch <lb n="pst_191.023"/>
nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt. <lb n="pst_191.024"/>
Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans <lb n="pst_191.025"/>
Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren <lb n="pst_191.026"/>
Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber <lb n="pst_191.027"/>
auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden <lb n="pst_191.028"/>
oder mildernden Umständen etwa in <lb n="pst_191.029"/>
Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden <lb n="pst_191.030"/>
und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert. <lb n="pst_191.031"/>
Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0195] pst_191.001 sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen. pst_191.002 Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich pst_191.003 untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft. pst_191.004 Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft, pst_191.005 ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt pst_191.006 bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich pst_191.007 nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist pst_191.008 beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht. pst_191.009 Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er pst_191.010 der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten pst_191.011 Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus, pst_191.012 bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von pst_191.013 Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem pst_191.014 Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt pst_191.015 war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein pst_191.016 feststand, kommt alles an. pst_191.017   Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische pst_191.018 und problematische, finden sich auch unter pst_191.019 diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen. pst_191.020 Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß, pst_191.021 entschließt sich und schreitet sodann zur Tat. pst_191.022 Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch pst_191.023 nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt. pst_191.024 Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans pst_191.025 Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren pst_191.026 Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber pst_191.027 auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden pst_191.028 oder mildernden Umständen etwa in pst_191.029 Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden pst_191.030 und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert. pst_191.031 Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/195
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/195>, abgerufen am 30.04.2024.