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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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muß, sieht keiner etwas. Was der Hinblick auf ... im pst_187.002
voraus, "a priori", wenngleich anhand der Dinge erschließt, pst_187.003
nennt Heidegger "Welt"1. Wir sprechen demnach pst_187.004
von der Welt des Bauern, des Malers, des Offiziers pst_187.005
und meinen damit nicht die Summe der Dinge, mit denen pst_187.006
sich jeder beschäftigt, sondern die Ordnung, den pst_187.007
kosmos, in dem sich etwas erst als etwas zu zeigen vermag.

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Im gleichen Sinne reden wir von der antiken und von pst_187.010
der christlichen Welt, der Welt der Bibel, Dantes, Shakespeares. pst_187.011
Dasselbe Seiende nimmt sich auch hier in verschiedenen pst_187.012
Welten verschieden aus. Der menschliche pst_187.013
Körper bei Sophokles ist nicht dasselbe wie bei Dante, pst_187.014
obwohl sich in anatomischer, biologischer oder in irgendeiner pst_187.015
anderen allgemeingültigen Hinsicht derselbe Gegenstand pst_187.016
darstellt. Die Unterschiede je nach verschiedenen pst_187.017
Welten sind Unterschiede des Stils2, so daß wir pst_187.018
den Ausdruck "Welt" in ästhetischer Forschung ohne pst_187.019
Bedenken mit dem Ausdruck "Stil" vertauschen dürfen. pst_187.020
Jeder echte Dichter hat seinen Stil, das heißt seine pst_187.021
eigene Welt.

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Ist sich dann aber nicht auch der lyrische und der pst_187.023
epische Dichter voraus? Dichten nicht auch sie im Hinblick pst_187.024
auf ..., und wird nicht auch ihnen alles erst in pst_187.025
einer Welt zugänglich, die a priori erschlossen ist und pst_187.026
sich an Dingen zeigt und bewährt? Kein Zweifel! Der pst_187.027
Lyriker und der Epiker wären sonst überhaupt keine

1 pst_187.028
Vgl. Vom Wesen des Grundes, 2. Aufl. 1931. In "Sein und Zeit" pst_187.029
ist der Weltbegriff noch nicht eindeutig bestimmt.
2 pst_187.030
Vgl. E. Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, Trivium, pst_187.031
Jahrg. III, 1945, S. 189 ff.

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  Im gleichen Sinne reden wir von der antiken und von pst_187.010
der christlichen Welt, der Welt der Bibel, Dantes, Shakespeares. pst_187.011
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Bedenken mit dem Ausdruck «Stil» vertauschen dürfen. pst_187.020
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eigene Welt.

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  Ist sich dann aber nicht auch der lyrische und der pst_187.023
epische Dichter voraus? Dichten nicht auch sie im Hinblick pst_187.024
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/191>, abgerufen am 30.04.2024.