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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Gretchentragödie, das Thema von Hebbels "Maria Magdalene" pst_185.002
oder von Kleists "Marquise von O." ist deshalb pst_185.003
so ergiebig, weil das Geschehen hier im buchstäblichsten pst_185.004
Sinne mit der Zukunft schwanger geht, weil die pst_185.005
Zeugung begründet, was zu bestimmter Zeit ans Tageslicht pst_185.006
treten und Wirkungen, die man nicht deutlich voraussehen, pst_185.007
aber doch ahnen kann, zeitigen wird.

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Schließlich hat aber jeder Vorsatz, jedes entschlossene pst_185.009
Unternehmen den Charakter einer Zeugung. Der planende, pst_185.010
hoffende, handelnde Mensch nimmt immer pst_185.011
schon künftiges Dasein vorweg. Und wenn er auch nie pst_185.012
gewiß sein kann, ob die Zukunft den Plan, die Hoffnung pst_185.013
erfüllt, wenn er sein Handeln dem dunklen Schoß des pst_185.014
Schicksals anvertrauen muß, so ist sein Wille doch für pst_185.015
den Hörer ein Zeichen, wohin er vorausdenken soll. Darin pst_185.016
gründet die Regel, daß der Held eines Dramas tätig pst_185.017
sein soll; ein leidender Held sei undramatisch. Ihr Sinn pst_185.018
erschöpft sich in der Erkenntnis, daß Künftiges antizipiert pst_185.019
werden muß. Wenn dies anderswie gelingt, so mag pst_185.020
der Held immerhin leidend sein - wie Elektra, Aias, pst_185.021
Berenice, Maria Stuart, Hebbels Klara oder Ibsens John pst_185.022
Gabriel Borkmann.

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Damit sind wir so weit, zu begreifen, warum die beiden pst_185.024
Möglichkeiten des spannenden Stils, die pathetische pst_185.025
und die problematische, sich so gern vereinen. Das Pathos pst_185.026
drängt vorwärts wie das Problem. Jenes will, dieses pst_185.027
fragt. Wollen und Fragen aber sind eins in einer futurischen pst_185.028
Existenz, die, je nach Temperament und Kraft, pst_185.029
sich mehr zu dem oder jenem entscheidet. Und wenn die pst_185.030
Fragen eines Problems allzu abstrakt zu werden drohen, pst_185.031
so, daß nur die raffinierteste Kunst den Anteil des Publikums

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Gretchentragödie, das Thema von Hebbels «Maria Magdalene» pst_185.002
oder von Kleists «Marquise von O.» ist deshalb pst_185.003
so ergiebig, weil das Geschehen hier im buchstäblichsten pst_185.004
Sinne mit der Zukunft schwanger geht, weil die pst_185.005
Zeugung begründet, was zu bestimmter Zeit ans Tageslicht pst_185.006
treten und Wirkungen, die man nicht deutlich voraussehen, pst_185.007
aber doch ahnen kann, zeitigen wird.

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  Schließlich hat aber jeder Vorsatz, jedes entschlossene pst_185.009
Unternehmen den Charakter einer Zeugung. Der planende, pst_185.010
hoffende, handelnde Mensch nimmt immer pst_185.011
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Schicksals anvertrauen muß, so ist sein Wille doch für pst_185.015
den Hörer ein Zeichen, wohin er vorausdenken soll. Darin pst_185.016
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sein soll; ein leidender Held sei undramatisch. Ihr Sinn pst_185.018
erschöpft sich in der Erkenntnis, daß Künftiges antizipiert pst_185.019
werden muß. Wenn dies anderswie gelingt, so mag pst_185.020
der Held immerhin leidend sein – wie Elektra, Aias, pst_185.021
Bérénice, Maria Stuart, Hebbels Klara oder Ibsens John pst_185.022
Gabriel Borkmann.

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  Damit sind wir so weit, zu begreifen, warum die beiden pst_185.024
Möglichkeiten des spannenden Stils, die pathetische pst_185.025
und die problematische, sich so gern vereinen. Das Pathos pst_185.026
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Existenz, die, je nach Temperament und Kraft, pst_185.029
sich mehr zu dem oder jenem entscheidet. Und wenn die pst_185.030
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/189>, abgerufen am 30.04.2024.