Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_168.001 Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit pst_168.021 pst_168.001 Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit pst_168.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0172" n="168"/><lb n="pst_168.001"/> Mime dagegen will die Rampe überspielen. Je schärfer <lb n="pst_168.002"/> sie scheidet, je weiter sich der Raum des Profanen, des <lb n="pst_168.003"/> Publikums dehnt, desto gewaltiger ist sein Triumph. <lb n="pst_168.004"/> Zu verlieren hat er nichts. Denn der pathetische Held <lb n="pst_168.005"/> ist psychologisch gar nicht differenziert. Das eine Pathos <lb n="pst_168.006"/> beherrscht ihn ganz. Schmerz, Glaube, Machtgier sind <lb n="pst_168.007"/> von grandioser Eindeutigkeit und brennen alles andere, <lb n="pst_168.008"/> was die Seele bergen könnte, aus. Das Pathos verzehrt <lb n="pst_168.009"/> die Individualität. Von der Besonderheit seines Daseins <lb n="pst_168.010"/> weiß der Hingerissene nichts. Stauffacher auf dem <lb n="pst_168.011"/> Rütli läßt den Biedermann von Steinen, der sein Los <lb n="pst_168.012"/> beklagt, weit hinter sich. Polyeucte kümmert sich nicht <lb n="pst_168.013"/> um sein Haus, um seine private Existenz und kennt nur <lb n="pst_168.014"/> eines, als Zeuge christlichen Glaubens in den Tod zu <lb n="pst_168.015"/> gehen. Unmißverständlich stellt Sophokles den pathetischen <lb n="pst_168.016"/> neben den nüchternen Menschen: Ismene und <lb n="pst_168.017"/> Chrysothemis bedenken ihre Herkunft, ihr Geschlecht, <lb n="pst_168.018"/> ihre Verletzlichkeit. Elektra und Antigone sind rücksichtslos <lb n="pst_168.019"/> in jedem Sinn und einzig belebt von ihrem Ziel.</p> <lb n="pst_168.020"/> <p> Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit <lb n="pst_168.021"/> fragwürdige, schillernde Tiefe des Menschen vermissen. <lb n="pst_168.022"/> Doch hier geht es ja gar nicht um das Wirkliche, <lb n="pst_168.023"/> sondern um das, was sein soll. Wenn dies irgend Anspruch <lb n="pst_168.024"/> auf Verwandlung des Bestehenden macht, so <lb n="pst_168.025"/> muß es selbst und müssen, die ihm dienen, unwahrscheinlich <lb n="pst_168.026"/> sein – innerhalb einer Grenze freilich, welche <lb n="pst_168.027"/> die Ahnung eben noch als Möglichkeit des Menschen erreicht. <lb n="pst_168.028"/> Dem Publikum, den übrigen Gestalten des Dramas, <lb n="pst_168.029"/> sogar sich selber kommen die pathetischen Helden <lb n="pst_168.030"/> unwahrscheinlich vor. Antigone in ihrem Schmerz vergleicht <lb n="pst_168.031"/> sich nicht mit andern Jungfrauen Thebens, sondern </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [168/0172]
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Mime dagegen will die Rampe überspielen. Je schärfer pst_168.002
sie scheidet, je weiter sich der Raum des Profanen, des pst_168.003
Publikums dehnt, desto gewaltiger ist sein Triumph. pst_168.004
Zu verlieren hat er nichts. Denn der pathetische Held pst_168.005
ist psychologisch gar nicht differenziert. Das eine Pathos pst_168.006
beherrscht ihn ganz. Schmerz, Glaube, Machtgier sind pst_168.007
von grandioser Eindeutigkeit und brennen alles andere, pst_168.008
was die Seele bergen könnte, aus. Das Pathos verzehrt pst_168.009
die Individualität. Von der Besonderheit seines Daseins pst_168.010
weiß der Hingerissene nichts. Stauffacher auf dem pst_168.011
Rütli läßt den Biedermann von Steinen, der sein Los pst_168.012
beklagt, weit hinter sich. Polyeucte kümmert sich nicht pst_168.013
um sein Haus, um seine private Existenz und kennt nur pst_168.014
eines, als Zeuge christlichen Glaubens in den Tod zu pst_168.015
gehen. Unmißverständlich stellt Sophokles den pathetischen pst_168.016
neben den nüchternen Menschen: Ismene und pst_168.017
Chrysothemis bedenken ihre Herkunft, ihr Geschlecht, pst_168.018
ihre Verletzlichkeit. Elektra und Antigone sind rücksichtslos pst_168.019
in jedem Sinn und einzig belebt von ihrem Ziel.
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Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit pst_168.021
fragwürdige, schillernde Tiefe des Menschen vermissen. pst_168.022
Doch hier geht es ja gar nicht um das Wirkliche, pst_168.023
sondern um das, was sein soll. Wenn dies irgend Anspruch pst_168.024
auf Verwandlung des Bestehenden macht, so pst_168.025
muß es selbst und müssen, die ihm dienen, unwahrscheinlich pst_168.026
sein – innerhalb einer Grenze freilich, welche pst_168.027
die Ahnung eben noch als Möglichkeit des Menschen erreicht. pst_168.028
Dem Publikum, den übrigen Gestalten des Dramas, pst_168.029
sogar sich selber kommen die pathetischen Helden pst_168.030
unwahrscheinlich vor. Antigone in ihrem Schmerz vergleicht pst_168.031
sich nicht mit andern Jungfrauen Thebens, sondern
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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