Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_165.001
einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom pst_165.002
Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals pst_165.003
los.

pst_165.004

So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen pst_165.005
Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich pst_165.006
ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären, pst_165.007
zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des pst_165.008
Pathos fähig. "Höhe" bedeutet ja nur "voraus sein". pst_165.009
Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild pst_165.010
für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden, pst_165.011
auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den pst_165.012
Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem pst_165.013
Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich pst_165.014
zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt pst_165.015
ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich, pst_165.016
als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch pst_165.017
nicht ist.

pst_165.018

Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde pst_165.019
Rhythmus, der von der Spannung zwischen pst_165.020
dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die pst_165.021
Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung, pst_165.022
und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was pst_165.023
nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende, pst_165.024
Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen pst_165.025
Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang pst_165.026
ihren genauesten Sinn. "Weh!", das bedeutet: Weh pst_165.027
ist! "O jener Tag!" in Elektras Klageruf meint: O jener pst_165.028
Tag war! "Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten" pst_165.029
werde ich sein - will Ferdinand sagen, wenn er pst_165.030
sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was pst_165.031
grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts "sein",

pst_165.001
einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom pst_165.002
Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals pst_165.003
los.

pst_165.004

  So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen pst_165.005
Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich pst_165.006
ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären, pst_165.007
zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des pst_165.008
Pathos fähig. «Höhe» bedeutet ja nur «voraus sein». pst_165.009
Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild pst_165.010
für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden, pst_165.011
auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den pst_165.012
Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem pst_165.013
Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich pst_165.014
zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt pst_165.015
ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich, pst_165.016
als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch pst_165.017
nicht ist.

pst_165.018

  Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde pst_165.019
Rhythmus, der von der Spannung zwischen pst_165.020
dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die pst_165.021
Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung, pst_165.022
und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was pst_165.023
nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende, pst_165.024
Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen pst_165.025
Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang pst_165.026
ihren genauesten Sinn. «Weh!», das bedeutet: Weh pst_165.027
ist! «O jener Tag!» in Elektras Klageruf meint: O jener pst_165.028
Tag war! «Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten» pst_165.029
werde ich sein – will Ferdinand sagen, wenn er pst_165.030
sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was pst_165.031
grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts «sein»,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0169" n="165"/><lb n="pst_165.001"/>
einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom <lb n="pst_165.002"/>
Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals <lb n="pst_165.003"/>
los.</p>
          <lb n="pst_165.004"/>
          <p>  So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen <lb n="pst_165.005"/>
Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich <lb n="pst_165.006"/>
ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären, <lb n="pst_165.007"/>
zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des <lb n="pst_165.008"/>
Pathos fähig. «Höhe» bedeutet ja nur «voraus sein». <lb n="pst_165.009"/>
Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild <lb n="pst_165.010"/>
für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden, <lb n="pst_165.011"/>
auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den <lb n="pst_165.012"/>
Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem <lb n="pst_165.013"/>
Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich <lb n="pst_165.014"/>
zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt <lb n="pst_165.015"/>
ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich, <lb n="pst_165.016"/>
als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch <lb n="pst_165.017"/> <hi rendition="#g">nicht</hi> ist.</p>
          <lb n="pst_165.018"/>
          <p>  Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde <lb n="pst_165.019"/>
Rhythmus, der von der Spannung zwischen <lb n="pst_165.020"/>
dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die <lb n="pst_165.021"/>
Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung, <lb n="pst_165.022"/>
und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was <lb n="pst_165.023"/>
nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende, <lb n="pst_165.024"/>
Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen <lb n="pst_165.025"/>
Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang <lb n="pst_165.026"/>
ihren genauesten Sinn. «Weh!», das bedeutet: Weh <lb n="pst_165.027"/> <hi rendition="#g">ist!</hi> «O jener Tag!» in Elektras Klageruf meint: O jener <lb n="pst_165.028"/>
Tag <hi rendition="#g">war!</hi> «Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten» <lb n="pst_165.029"/> <hi rendition="#g">werde ich sein</hi> &#x2013; will Ferdinand sagen, wenn er <lb n="pst_165.030"/>
sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was <lb n="pst_165.031"/>
grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts «sein»,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0169] pst_165.001 einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom pst_165.002 Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals pst_165.003 los. pst_165.004   So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen pst_165.005 Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich pst_165.006 ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären, pst_165.007 zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des pst_165.008 Pathos fähig. «Höhe» bedeutet ja nur «voraus sein». pst_165.009 Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild pst_165.010 für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden, pst_165.011 auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den pst_165.012 Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem pst_165.013 Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich pst_165.014 zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt pst_165.015 ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich, pst_165.016 als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch pst_165.017 nicht ist. pst_165.018   Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde pst_165.019 Rhythmus, der von der Spannung zwischen pst_165.020 dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die pst_165.021 Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung, pst_165.022 und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was pst_165.023 nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende, pst_165.024 Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen pst_165.025 Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang pst_165.026 ihren genauesten Sinn. «Weh!», das bedeutet: Weh pst_165.027 ist! «O jener Tag!» in Elektras Klageruf meint: O jener pst_165.028 Tag war! «Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten» pst_165.029 werde ich sein – will Ferdinand sagen, wenn er pst_165.030 sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was pst_165.031 grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts «sein»,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/169
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/169>, abgerufen am 09.11.2024.