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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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entzünden. Aber es ist nicht angewiesen auf die pst_164.002
Vermittlung des Begriffs. Es ist eine unmittelbare Bewegung, pst_164.003
die sich selbst in ihrer Herkunft und Richtung pst_164.004
nicht zu verstehen braucht. Im Unterschied zur lyrischen pst_164.005
Bewegung aber hat sie beides, eine Herkunft und pst_164.006
ein Ziel. Der pathetische Mensch, so müssen wir sagen, pst_164.007
ist bewegt von dem, was sein soll; und seine Bewegung pst_164.008
ist gerichtet wider das Bestehende.

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Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle großen pst_164.010
Pathosszenen daraufhin zu überprüfen. Das Pathos der pst_164.011
politischen Rede fügt sich ohne weiteres ein. Das Pathos pst_164.012
des Schmerzes scheint ohnmächtig. Doch was hier sein pst_164.013
soll, ist die Anerkennung des ungeheuren Leids, im pst_164.014
Helden selbst und allen, die ihm nahen, die Höhe des pst_164.015
Bewußtseins, das den Schmerz erfassen muß. Welche pst_164.016
andere Bedeutung hätte sonst die Ungeduld im Pathos pst_164.017
der Antigone und in den Schreien Philoktets? In den pst_164.018
Fürsten der Barocktragödien erscheint der pathetische pst_164.019
Anspruch in Person. Sie drücken ihre Umgebung hinab pst_164.020
und weisen über sich hinaus auf den göttlichen Ursprung pst_164.021
ihrer Macht.

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Immer bleibt das Bestehende hinter dem zurück, was pst_164.023
im Pathos bewegt. Oder, von der andern Seite aus gesehen, pst_164.024
das Pathos ist erhaben. Die Höhe erscheint als pst_164.025
Wesenszug. Wir sprechen darum vom "hohen" Pathos. pst_164.026
Wenn wir aber sonst die Begriffe "hoch" und "tief" pst_164.027
vertauschen können und zum Beispiel sagen, etwas sei pst_164.028
uns zu hoch, wenn es zu tief ist, so reden wir nie von pst_164.029
tiefem Pathos. Und der Ausdruck "niederes" Pathos pst_164.030
wäre völlig unangebracht. Wollen wir eine pathetische pst_164.031
Rede tadeln, so nennen wir sie gestelzt. Wir deuten damit

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entzünden. Aber es ist nicht angewiesen auf die pst_164.002
Vermittlung des Begriffs. Es ist eine unmittelbare Bewegung, pst_164.003
die sich selbst in ihrer Herkunft und Richtung pst_164.004
nicht zu verstehen braucht. Im Unterschied zur lyrischen pst_164.005
Bewegung aber hat sie beides, eine Herkunft und pst_164.006
ein Ziel. Der pathetische Mensch, so müssen wir sagen, pst_164.007
ist bewegt von dem, was sein soll; und seine Bewegung pst_164.008
ist gerichtet wider das Bestehende.

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  Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle großen pst_164.010
Pathosszenen daraufhin zu überprüfen. Das Pathos der pst_164.011
politischen Rede fügt sich ohne weiteres ein. Das Pathos pst_164.012
des Schmerzes scheint ohnmächtig. Doch was hier sein pst_164.013
soll, ist die Anerkennung des ungeheuren Leids, im pst_164.014
Helden selbst und allen, die ihm nahen, die Höhe des pst_164.015
Bewußtseins, das den Schmerz erfassen muß. Welche pst_164.016
andere Bedeutung hätte sonst die Ungeduld im Pathos pst_164.017
der Antigone und in den Schreien Philoktets? In den pst_164.018
Fürsten der Barocktragödien erscheint der pathetische pst_164.019
Anspruch in Person. Sie drücken ihre Umgebung hinab pst_164.020
und weisen über sich hinaus auf den göttlichen Ursprung pst_164.021
ihrer Macht.

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  Immer bleibt das Bestehende hinter dem zurück, was pst_164.023
im Pathos bewegt. Oder, von der andern Seite aus gesehen, pst_164.024
das Pathos ist erhaben. Die Höhe erscheint als pst_164.025
Wesenszug. Wir sprechen darum vom «hohen» Pathos. pst_164.026
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/168>, abgerufen am 30.04.2024.