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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Das Pathos wirkt nicht so diskret. Es setzt einen Widerstand pst_160.002
voraus, offene Feindschaft oder auch Trägheit, pst_160.003
und versucht, ihn mit Nachdruck zu brechen. Aus dieser pst_160.004
ganz anderen Situation sind alle Stilmerkmale verständlich. pst_160.005
Das Pathos wird nicht eingeflößt, sondern pst_160.006
eingeprägt oder eingehämmert. Der Satzzusammenhang pst_160.007
löst sich nicht, wie in lyrischer Dichtung, träumerisch pst_160.008
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einzelnen Wörtern zusammen, so schon in dem parakopa, pst_160.010
paraphora, phrenoplanes der Aischyleischen Eumeniden, pst_160.011
so auch in Don Diegos Monolog im "Cid", wo pst_160.012
neuere Orthographie erlaubt, durch Ausrufezeichen pst_160.013
den ganz unlyrischen Sinn der Worte sicherzustellen:

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"O rage! o desespoir! o vieillesse ennemie!"

(I, 4)

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Ebenso meint die Wiederholung hier nicht hingegebenes pst_160.016
Lauschen auf den einen bezaubernden Klang. pst_160.017
Das Wort, auf das es ankommt, das die Seele des Hörers pst_160.018
erschüttern soll, wird mit der größten Anstrengung des pst_160.019
Gemüts immer wieder hinausgeschleudert:

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"Rome, l'unique objet de mon ressentiment! pst_160.021
Rome, a qui vient ton bras immoler mon amant! pst_160.022
Rome, qui t'a vu naeitre, et que ton coeur adore! pst_160.023
Rome enfin que je hais parce qu'elle t'honore!"
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(Corneille, Horace IV, 5)

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Schließlich verbreitet auch die kompliziertere Rhythmik pst_160.026
auf Höhepunkten des Pathos keineswegs eine Stimmung. pst_160.027
Sie will durch stärkste Schläge, wie ein Gewitter, pst_160.028
die Atmosphäre reinigen. Gryphius, dem kaum je pst_160.029
ein unmittelbarer lyrischer Ton geglückt ist, leistet hier

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  Das Pathos wirkt nicht so diskret. Es setzt einen Widerstand pst_160.002
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und versucht, ihn mit Nachdruck zu brechen. Aus dieser pst_160.004
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Das Pathos wird nicht eingeflößt, sondern pst_160.006
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neuere Orthographie erlaubt, durch Ausrufezeichen pst_160.013
den ganz unlyrischen Sinn der Worte sicherzustellen:

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«O rage! o désespoir! o vieillesse ennemie!»

(I, 4)

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  Ebenso meint die Wiederholung hier nicht hingegebenes pst_160.016
Lauschen auf den einen bezaubernden Klang. pst_160.017
Das Wort, auf das es ankommt, das die Seele des Hörers pst_160.018
erschüttern soll, wird mit der größten Anstrengung des pst_160.019
Gemüts immer wieder hinausgeschleudert:

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«Rome, l'unique objet de mon ressentiment! pst_160.021
Rome, à qui vient ton bras immoler mon amant! pst_160.022
Rome, qui t'a vu naître, et que ton cœur adore! pst_160.023
Rome enfin que je hais parce qu'elle t'honore!»
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(Corneille, Horace IV, 5)

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Schließlich verbreitet auch die kompliziertere Rhythmik pst_160.026
auf Höhepunkten des Pathos keineswegs eine Stimmung. pst_160.027
Sie will durch stärkste Schläge, wie ein Gewitter, pst_160.028
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/164>, abgerufen am 30.04.2024.