Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_158.001 Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch pst_158.009 Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden. pst_158.023 1 pst_158.029 Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943, pst_158.030 S. 23-24. 2 pst_158.031
De finibus bonorum et malorum III, 10. pst_158.001 Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch pst_158.009 Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden. pst_158.023 1 pst_158.029 Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943, pst_158.030 S. 23–24. 2 pst_158.031
De finibus bonorum et malorum III, 10. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0162" n="158"/><lb n="pst_158.001"/> Spannung gehaltene Einheit bilden<note xml:id="PST_158_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_158.029"/> Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943, <lb n="pst_158.030"/> S. 23–24.</note>. Nachdem wir jedoch <lb n="pst_158.002"/> die Idee der Lyrik in einem sehr bestimmten Sinn <lb n="pst_158.003"/> so rein wie möglich herausgestellt haben, sind wir gezwungen, <lb n="pst_158.004"/> das Pathos als eine besondere Gattung anzuerkennen. <lb n="pst_158.005"/> Ist die Ordnung des Ganzen sinnvoll, so <lb n="pst_158.006"/> kann uns ein solcher Zwang nur willkommen und klaren <lb n="pst_158.007"/> Begriffen förderlich sein.</p> <lb n="pst_158.008"/> <p> Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch <lb n="pst_158.009"/> auseinanderzusetzen. <foreign xml:lang="grc">Πάθος</foreign> wird in den Wörterbüchern <lb n="pst_158.010"/> mit «Erlebnis, Unglück, Leid, Leidenschaft», aber <lb n="pst_158.011"/> auch noch mit vielen anderen Ausdrücken übersetzt. <lb n="pst_158.012"/> Cicero meint<note xml:id="PST_158_2" place="foot" n="2"><lb n="pst_158.031"/> De finibus bonorum et malorum III, 10.</note>, er müßte streng genommen «morbus» <lb n="pst_158.013"/> dafür sagen, zieht aber dann den angemesseneren Ausdruck <lb n="pst_158.014"/> «perturbatio» vor. – Damit kommen wir nicht <lb n="pst_158.015"/> weit. Wir sehen wohl, daß ein Unglück im Drama <lb n="pst_158.016"/> Pathosszenen auslösen kann und daß sich die Leidenschaft <lb n="pst_158.017"/> oft in pathetischen Worten und Gebärden äußert. <lb n="pst_158.018"/> Aber die tiefe Leidenschaft von Goethes Tasso ist nicht <lb n="pst_158.019"/> pathetisch, und ein Unglück wie das von Hauptmanns <lb n="pst_158.020"/> Fuhrmann Henschel wirkt gerade durch seine unpathetische <lb n="pst_158.021"/> Stille.</p> <lb n="pst_158.022"/> <p> Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden. <lb n="pst_158.023"/> In der Nikomachischen Ethik (B, 4) wird die <lb n="pst_158.024"/> menschliche Seele eingeteilt in <foreign xml:lang="grc">πάθη, δυνάμεις</foreign> und <lb n="pst_158.025"/> <foreign xml:lang="grc">ἕξεις</foreign>. <foreign xml:lang="grc">Πάθη</foreign> bezeichnet die «Leidenschaften», im allgemeinsten <lb n="pst_158.026"/> Sinne des Worts. Der Mensch wird durch <lb n="pst_158.027"/> Leidenschaften bewegt. In der Rhetorik (<foreign xml:lang="grc">Γ</foreign>, 7) verlangt <lb n="pst_158.028"/> Aristoteles deshalb von einer guten Rede, daß sie sachgetreu, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [158/0162]
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Spannung gehaltene Einheit bilden 1. Nachdem wir jedoch pst_158.002
die Idee der Lyrik in einem sehr bestimmten Sinn pst_158.003
so rein wie möglich herausgestellt haben, sind wir gezwungen, pst_158.004
das Pathos als eine besondere Gattung anzuerkennen. pst_158.005
Ist die Ordnung des Ganzen sinnvoll, so pst_158.006
kann uns ein solcher Zwang nur willkommen und klaren pst_158.007
Begriffen förderlich sein.
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Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch pst_158.009
auseinanderzusetzen. Πάθος wird in den Wörterbüchern pst_158.010
mit «Erlebnis, Unglück, Leid, Leidenschaft», aber pst_158.011
auch noch mit vielen anderen Ausdrücken übersetzt. pst_158.012
Cicero meint 2, er müßte streng genommen «morbus» pst_158.013
dafür sagen, zieht aber dann den angemesseneren Ausdruck pst_158.014
«perturbatio» vor. – Damit kommen wir nicht pst_158.015
weit. Wir sehen wohl, daß ein Unglück im Drama pst_158.016
Pathosszenen auslösen kann und daß sich die Leidenschaft pst_158.017
oft in pathetischen Worten und Gebärden äußert. pst_158.018
Aber die tiefe Leidenschaft von Goethes Tasso ist nicht pst_158.019
pathetisch, und ein Unglück wie das von Hauptmanns pst_158.020
Fuhrmann Henschel wirkt gerade durch seine unpathetische pst_158.021
Stille.
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Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden. pst_158.023
In der Nikomachischen Ethik (B, 4) wird die pst_158.024
menschliche Seele eingeteilt in πάθη, δυνάμεις und pst_158.025
ἕξεις. Πάθη bezeichnet die «Leidenschaften», im allgemeinsten pst_158.026
Sinne des Worts. Der Mensch wird durch pst_158.027
Leidenschaften bewegt. In der Rhetorik (Γ, 7) verlangt pst_158.028
Aristoteles deshalb von einer guten Rede, daß sie sachgetreu,
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Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943, pst_158.030
S. 23–24.
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De finibus bonorum et malorum III, 10.
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