Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_155.001 DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG pst_155.002Die Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen pst_155.003 pst_155.001 DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG pst_155.002Die Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen pst_155.003 <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0159" n="155"/> <div n="1"> <lb n="pst_155.001"/> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG</hi> </hi> </head> <lb n="pst_155.002"/> <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen <lb n="pst_155.003"/> Stils vom Wesen der Bühne abzuleiten und hoffen, <lb n="pst_155.004"/> nachdem die Theorie des Epos und erst recht der <lb n="pst_155.005"/> Lyrik wenig praktischen Nutzen verspricht, doch auf <lb n="pst_155.006"/> dramatischem Gebiet den Dichter beraten und fördern <lb n="pst_155.007"/> zu dürfen. Nun ist kein Zweifel, daß jeder Dichter, der <lb n="pst_155.008"/> Bühnenstücke zu schreiben gedenkt, sich eine genaue <lb n="pst_155.009"/> Kenntnis der Möglichkeiten der Bühne verschaffen muß <lb n="pst_155.010"/> und daß der Rat des Erfahrenen den Weg zum Ziel beträchtlich <lb n="pst_155.011"/> abkürzt. Allein, die Bühne eignet sich für <lb n="pst_155.012"/> ganz verschiedene Dichtungsarten. Ein modernes Gesellschaftsstück, <lb n="pst_155.013"/> das ganz im Dialog aufgeht, entspricht <lb n="pst_155.014"/> ihr nicht minder als eine barocke Zauberoper, in der <lb n="pst_155.015"/> das Wort eine untergeordnete Rolle spielt; ein vaterländisches <lb n="pst_155.016"/> Festspiel mit lebenden Bildern bewährt sich <lb n="pst_155.017"/> in ähnlichem Raum wie eine Tragödie von Sophokles. <lb n="pst_155.018"/> Doch niemand würde es wagen, all dies ohne Wahl <lb n="pst_155.019"/> «dramatisch» zu nennen, während die Bühnenfähigkeit <lb n="pst_155.020"/> nicht wohl bezweifelt werden kann. Andrerseits <lb n="pst_155.021"/> gibt es eine dramatische Poesie von höchstem Rang, die <lb n="pst_155.022"/> auf der Bühne nicht gedeiht oder gar nicht für die <lb n="pst_155.023"/> Bühne bestimmt ist, zum Beispiel die Novellen, aber <lb n="pst_155.024"/> auch einige Dramen von Heinrich von Kleist, bei denen <lb n="pst_155.025"/> das Geschehen nicht die nötige Schaubarkeit gewinnt. <lb n="pst_155.026"/> «Bühnenmäßig» und «dramatisch» bedeutet also nicht </p> </div> </body> </text> </TEI> [155/0159]
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DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG pst_155.002
Die Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen pst_155.003
Stils vom Wesen der Bühne abzuleiten und hoffen, pst_155.004
nachdem die Theorie des Epos und erst recht der pst_155.005
Lyrik wenig praktischen Nutzen verspricht, doch auf pst_155.006
dramatischem Gebiet den Dichter beraten und fördern pst_155.007
zu dürfen. Nun ist kein Zweifel, daß jeder Dichter, der pst_155.008
Bühnenstücke zu schreiben gedenkt, sich eine genaue pst_155.009
Kenntnis der Möglichkeiten der Bühne verschaffen muß pst_155.010
und daß der Rat des Erfahrenen den Weg zum Ziel beträchtlich pst_155.011
abkürzt. Allein, die Bühne eignet sich für pst_155.012
ganz verschiedene Dichtungsarten. Ein modernes Gesellschaftsstück, pst_155.013
das ganz im Dialog aufgeht, entspricht pst_155.014
ihr nicht minder als eine barocke Zauberoper, in der pst_155.015
das Wort eine untergeordnete Rolle spielt; ein vaterländisches pst_155.016
Festspiel mit lebenden Bildern bewährt sich pst_155.017
in ähnlichem Raum wie eine Tragödie von Sophokles. pst_155.018
Doch niemand würde es wagen, all dies ohne Wahl pst_155.019
«dramatisch» zu nennen, während die Bühnenfähigkeit pst_155.020
nicht wohl bezweifelt werden kann. Andrerseits pst_155.021
gibt es eine dramatische Poesie von höchstem Rang, die pst_155.022
auf der Bühne nicht gedeiht oder gar nicht für die pst_155.023
Bühne bestimmt ist, zum Beispiel die Novellen, aber pst_155.024
auch einige Dramen von Heinrich von Kleist, bei denen pst_155.025
das Geschehen nicht die nötige Schaubarkeit gewinnt. pst_155.026
«Bühnenmäßig» und «dramatisch» bedeutet also nicht
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