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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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in seiner Beschaffenheit von Gott, und kann deshalb pst_148.002
mit stereotypen Epitheta ausgestattet werden. Das pst_148.003
Tier lebt in den Tag hinein. Es hat seinen eigenen Lebenskreis. pst_148.004
Jedes ist eine Welt für sich und vermag sich pst_148.005
als solche auch gegen die Monarchie des Löwen zu behaupten. pst_148.006
So ist denn Reineke Fuchs tatsächlich ein pst_148.007
neuer listenreicher Odysseus. Und wundern kann es uns pst_148.008
nicht, daß er in Tiergestalt Auferstehung feiert. Die pst_148.009
Menschen nämlich sind anders geworden. Die Tiere pst_148.010
aber sind geblieben, was sie waren von Anbeginn.

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Neben den Tieren wären dann weiterhin die Kinder pst_148.012
und Toren zu nennen, Till Eulenspiegel, und was an pst_148.013
Schalksnarren sonst in Epen sein Wesen treibt. Sie kennen pst_148.014
keine Verantwortung gegenüber dem, was allgemein pst_148.015
gilt, so wenig wie die homerischen Helden, die pst_148.016
leben und handeln nach eigenem Sinn. Wenn so die pst_148.017
Komik des Naiven in die Nähe des Epischen rückt, so pst_148.018
darf uns das wohl kaum beirren. Auch Homer, sobald pst_148.019
wir ihn mit unserm modernen Bewußtsein lesen, nötigt pst_148.020
uns oft ein Lächeln ab. Er selber lächelt freilich nicht, pst_148.021
wenn die Götter sich zanken oder Zeus seine Neigung pst_148.022
zu den Troianern mit dem Wein und Gedüft begründet, pst_148.023
das Priamos ihm gespendet hat. Wir aber lächeln, weil pst_148.024
es uns von mühsameren Gottesgedanken entspannt, pst_148.025
weil überall das homerische Epos von Sorgen der modernen pst_148.026
Kultur und Anstrengungen des Geistes befreit.

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In der klassischen Epoche des deutschen Schrifttums pst_148.028
blüht, begünstigt von Vossens Homerübersetzung, das pst_148.029
Epos abermals auf. Die "Luise" von Voß, Goethes pst_148.030
"Hermann und Dorothea", Hebbels "Mutter und pst_148.031
Kind", die "Idylle vom Bodensee" von Mörike stehen

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in seiner Beschaffenheit von Gott, und kann deshalb pst_148.002
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als solche auch gegen die Monarchie des Löwen zu behaupten. pst_148.006
So ist denn Reineke Fuchs tatsächlich ein pst_148.007
neuer listenreicher Odysseus. Und wundern kann es uns pst_148.008
nicht, daß er in Tiergestalt Auferstehung feiert. Die pst_148.009
Menschen nämlich sind anders geworden. Die Tiere pst_148.010
aber sind geblieben, was sie waren von Anbeginn.

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  Neben den Tieren wären dann weiterhin die Kinder pst_148.012
und Toren zu nennen, Till Eulenspiegel, und was an pst_148.013
Schalksnarren sonst in Epen sein Wesen treibt. Sie kennen pst_148.014
keine Verantwortung gegenüber dem, was allgemein pst_148.015
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leben und handeln nach eigenem Sinn. Wenn so die pst_148.017
Komik des Naiven in die Nähe des Epischen rückt, so pst_148.018
darf uns das wohl kaum beirren. Auch Homer, sobald pst_148.019
wir ihn mit unserm modernen Bewußtsein lesen, nötigt pst_148.020
uns oft ein Lächeln ab. Er selber lächelt freilich nicht, pst_148.021
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  In der klassischen Epoche des deutschen Schrifttums pst_148.028
blüht, begünstigt von Vossens Homerübersetzung, das pst_148.029
Epos abermals auf. Die «Luise» von Voß, Goethes pst_148.030
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/152>, abgerufen am 30.04.2024.