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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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"Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt pst_145.002
(anethekan), was nur bei Menschen Schimpf und pst_145.003
Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig pst_145.004
Betrügen1."

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Hier haben sich "Gut" und "Böse" bereits von den pst_145.006
Einzelgestalten abgelöst und sind zu abstrakten Werten pst_145.007
geworden, die ihrer Erscheinung nur angehängt werden. pst_145.008
Die unbekümmerte Selbständigkeit des Einzelnen pst_145.009
ist damit vernichtet.

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"Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten pst_145.011
oder malen könnten mit ihren Händen und Werke pst_145.012
bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, pst_145.013
die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten ... pst_145.014
bilden2."

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Hier wird ein Zusammenhang von Gott und Mensch pst_145.016
zum Problem, den Homer noch nicht ahnt. Gleichgültig, pst_145.017
wie es Xenophanes löst: Sobald es nur angedeutet pst_145.018
ist, sind beide, Götter und Menschen, fragwürdig und pst_145.019
nicht mehr möglich in epischer Dichtung. Dem Epiker pst_145.020
nämlich genügt es, zu wissen, daß etwas ist, woher es pst_145.021
stammt, und daß er es nennt in seinem Werk.

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"Wenn Gott von allen der mächtigste ist, so kann er pst_145.023
auch nur einer sein; denn wären es zwei oder drei, so pst_145.024
wäre er nicht der mächtigste und beste von allen3."

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Hier zieht Xenophanes einen Schluß, mit dem der pst_145.026
ganze Olymp versinkt. Homer zieht keine Schlüsse, redet pst_145.027
beteuernd von dem mächtigsten Gott und läßt die

1 pst_145.028
Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 5. Aufl. Berlin 1934, pst_145.029
21 B 11 (I, 132,2).
2 pst_145.030
a. a. O. 21 B 15 (I, 132, 19).
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a. a. O. 21 A 28 (I, 117).
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  «Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt pst_145.002
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Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig pst_145.004
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  Hier haben sich «Gut» und «Böse» bereits von den pst_145.006
Einzelgestalten abgelöst und sind zu abstrakten Werten pst_145.007
geworden, die ihrer Erscheinung nur angehängt werden. pst_145.008
Die unbekümmerte Selbständigkeit des Einzelnen pst_145.009
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  «Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten pst_145.011
oder malen könnten mit ihren Händen und Werke pst_145.012
bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, pst_145.013
die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten ... pst_145.014
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  Hier wird ein Zusammenhang von Gott und Mensch pst_145.016
zum Problem, den Homer noch nicht ahnt. Gleichgültig, pst_145.017
wie es Xenophanes löst: Sobald es nur angedeutet pst_145.018
ist, sind beide, Götter und Menschen, fragwürdig und pst_145.019
nicht mehr möglich in epischer Dichtung. Dem Epiker pst_145.020
nämlich genügt es, zu wissen, daß etwas ist, woher es pst_145.021
stammt, und daß er es nennt in seinem Werk.

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  «Wenn Gott von allen der mächtigste ist, so kann er pst_145.023
auch nur einer sein; denn wären es zwei oder drei, so pst_145.024
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  Hier zieht Xenophanes einen Schluß, mit dem der pst_145.026
ganze Olymp versinkt. Homer zieht keine Schlüsse, redet pst_145.027
beteuernd von dem mächtigsten Gott und läßt die

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Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 5. Aufl. Berlin 1934, pst_145.029
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/149>, abgerufen am 04.05.2024.