Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite
pst_102.001

In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers:

pst_102.002
"Also ward in den Brüsten der Griechen der thumos pst_102.003
zerrissen."
pst_102.004

Thumos, Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser pst_102.005
Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe, pst_102.006
die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt pst_102.007
hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns pst_102.008
heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche pst_102.009
Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist.

pst_102.010

Von Menelaos heißt es im 17. Gesang:

pst_102.011

"Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im pst_102.012
Zwerchfell ..."
   (V. 106)

pst_102.013

Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das pst_102.014
letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt pst_102.015
zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben, pst_102.016
werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich pst_102.017
Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so, pst_102.018
daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber pst_102.019
führt. So lesen wir im selben Gesang:

pst_102.020
"Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen pst_102.021
Gemüte ..."
pst_102.022

Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz pst_102.023
darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet. pst_102.024
So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo pst_102.025
nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die pst_102.026
Rede sein könnte:

pst_102.027
"Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen."
pst_102.028

(I, 545)

pst_102.001

In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers:

pst_102.002
«Also ward in den Brüsten der Griechen der θυμός pst_102.003
zerrissen.»
pst_102.004

  Θυμός, Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser pst_102.005
Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe, pst_102.006
die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt pst_102.007
hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns pst_102.008
heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche pst_102.009
Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist.

pst_102.010

Von Menelaos heißt es im 17. Gesang:

pst_102.011

«Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im pst_102.012
Zwerchfell ...»
   (V. 106)

pst_102.013

Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das pst_102.014
letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt pst_102.015
zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben, pst_102.016
werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich pst_102.017
Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so, pst_102.018
daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber pst_102.019
führt. So lesen wir im selben Gesang:

pst_102.020
«Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen pst_102.021
Gemüte ...»
pst_102.022

Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz pst_102.023
darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet. pst_102.024
So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo pst_102.025
nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die pst_102.026
Rede sein könnte:

pst_102.027
«Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen.»
pst_102.028

(I, 545)

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0106" n="102"/>
          <lb n="pst_102.001"/>
          <p>In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers:</p>
          <lb n="pst_102.002"/>
          <lg>
            <l>«Also ward in den Brüsten der Griechen der <foreign xml:lang="grc">&#x03B8;&#x03C5;&#x03BC;&#x03CC;&#x03C2;</foreign></l>
            <lb n="pst_102.003"/>
            <l> <hi rendition="#et">zerrissen.»</hi> </l>
          </lg>
          <lb n="pst_102.004"/>
          <p>  <foreign xml:lang="grc">&#x0398;&#x03C5;&#x03BC;&#x03CC;&#x03C2;</foreign>, Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser <lb n="pst_102.005"/>
Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe, <lb n="pst_102.006"/>
die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt <lb n="pst_102.007"/>
hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns <lb n="pst_102.008"/>
heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche <lb n="pst_102.009"/>
Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist.</p>
          <lb n="pst_102.010"/>
          <p>Von Menelaos heißt es im 17. Gesang:</p>
          <lb n="pst_102.011"/>
          <p><lg><l>«Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im</l><lb n="pst_102.012"/><l><hi rendition="#et">Zwerchfell ...»</hi></l></lg><space dim="horizontal"/>(V. 106)</p>
          <lb n="pst_102.013"/>
          <p>Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das <lb n="pst_102.014"/>
letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt <lb n="pst_102.015"/>
zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben, <lb n="pst_102.016"/>
werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich <lb n="pst_102.017"/>
Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so, <lb n="pst_102.018"/>
daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber <lb n="pst_102.019"/>
führt. So lesen wir im selben Gesang:</p>
          <lb n="pst_102.020"/>
          <lg>
            <l>«Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen</l>
            <lb n="pst_102.021"/>
            <l> <hi rendition="#et">Gemüte ...»</hi> </l>
          </lg>
          <lb n="pst_102.022"/>
          <p>Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz <lb n="pst_102.023"/>
darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet. <lb n="pst_102.024"/>
So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo <lb n="pst_102.025"/>
nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die <lb n="pst_102.026"/>
Rede sein könnte:</p>
          <lb n="pst_102.027"/>
          <lg>
            <l>«Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen.»</l>
          </lg>
          <lb n="pst_102.028"/>
          <p> <hi rendition="#right">(I, 545)</hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0106] pst_102.001 In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers: pst_102.002 «Also ward in den Brüsten der Griechen der θυμός pst_102.003 zerrissen.» pst_102.004   Θυμός, Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser pst_102.005 Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe, pst_102.006 die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt pst_102.007 hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns pst_102.008 heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche pst_102.009 Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist. pst_102.010 Von Menelaos heißt es im 17. Gesang: pst_102.011 «Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im pst_102.012 Zwerchfell ...» (V. 106) pst_102.013 Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das pst_102.014 letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt pst_102.015 zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben, pst_102.016 werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich pst_102.017 Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so, pst_102.018 daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber pst_102.019 führt. So lesen wir im selben Gesang: pst_102.020 «Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen pst_102.021 Gemüte ...» pst_102.022 Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz pst_102.023 darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet. pst_102.024 So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo pst_102.025 nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die pst_102.026 Rede sein könnte: pst_102.027 «Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen.» pst_102.028 (I, 545)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/106
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/106>, abgerufen am 04.05.2024.