Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es zur
Schule und zwar jeden Tag."

"Ich thu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte un¬
entwegt.

"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch
zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem
unvernünftigen Thun beharren wollt?" sagte der Herr
Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. "Ihr seid weit in der Welt
herumgekommen und habt viel gesehen und Vieles lernen
können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar."

"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verrieth,
daß es auch in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig
war; "und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirk¬
lich im nächsten Winter am eisigen Morgen durch Sturm
und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunter¬
schicken, zwei Stunden weit und zur Nacht wieder herauf¬
kommen lassen, wenn's manchmal tobt und thut, daß Unser¬
einer fast in Wind und Schnee ersticken müßte und dann
ein Kind wie dieses! Und vielleicht kann sich der Herr
Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie
war mondsüchtig und hatte Zufälle, soll das Kind auch so
Etwas holen mit der Anstrengung? Es soll mir Einer
kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Ge¬
richte mit ihm, dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"

"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer
mit Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von

Unterricht zugebracht hat; nächſten Winter kommt es zur
Schule und zwar jeden Tag.“

„Ich thu's nicht, Herr Pfarrer“, ſagte der Alte un¬
entwegt.

„Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch
zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr ſo eigenſinnig bei Eurem
unvernünftigen Thun beharren wollt?“ ſagte der Herr
Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. „Ihr ſeid weit in der Welt
herumgekommen und habt viel geſehen und Vieles lernen
können, ich hätte Euch mehr Einſicht zugetraut, Nachbar.“

„So“, ſagte jetzt der Alte und ſeine Stimme verrieth,
daß es auch in ſeinem Innern nicht mehr ſo ganz ruhig
war; „und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirk¬
lich im nächſten Winter am eiſigen Morgen durch Sturm
und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunter¬
ſchicken, zwei Stunden weit und zur Nacht wieder herauf¬
kommen laſſen, wenn's manchmal tobt und thut, daß Unſer¬
einer faſt in Wind und Schnee erſticken müßte und dann
ein Kind wie dieſes! Und vielleicht kann ſich der Herr
Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; ſie
war mondſüchtig und hatte Zufälle, ſoll das Kind auch ſo
Etwas holen mit der Anſtrengung? Es ſoll mir Einer
kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Ge¬
richte mit ihm, dann wollen wir ſehen, wer mich zwingt!“

„Ihr habt ganz Recht, Nachbar“, ſagte der Herr Pfarrer
mit Freundlichkeit; „es wäre nicht möglich, das Kind von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0086" n="76"/>
Unterricht zugebracht hat; näch&#x017F;ten Winter kommt es zur<lb/>
Schule und zwar jeden Tag.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich thu's nicht, Herr Pfarrer&#x201C;, &#x017F;agte der Alte un¬<lb/>
entwegt.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch<lb/>
zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr &#x017F;o eigen&#x017F;innig bei Eurem<lb/>
unvernünftigen Thun beharren wollt?&#x201C; &#x017F;agte der Herr<lb/>
Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. &#x201E;Ihr &#x017F;eid weit in der Welt<lb/>
herumgekommen und habt viel ge&#x017F;ehen und Vieles lernen<lb/>
können, ich hätte Euch mehr Ein&#x017F;icht zugetraut, Nachbar.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;So&#x201C;, &#x017F;agte jetzt der Alte und &#x017F;eine Stimme verrieth,<lb/>
daß es auch in &#x017F;einem Innern nicht mehr &#x017F;o ganz ruhig<lb/>
war; &#x201E;und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirk¬<lb/>
lich im näch&#x017F;ten Winter am ei&#x017F;igen Morgen durch Sturm<lb/>
und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunter¬<lb/>
&#x017F;chicken, zwei Stunden weit und zur Nacht wieder herauf¬<lb/>
kommen la&#x017F;&#x017F;en, wenn's manchmal tobt und thut, daß Un&#x017F;er¬<lb/>
einer fa&#x017F;t in Wind und Schnee er&#x017F;ticken müßte und dann<lb/>
ein Kind wie die&#x017F;es! Und vielleicht kann &#x017F;ich der Herr<lb/>
Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; &#x017F;ie<lb/>
war mond&#x017F;üchtig und hatte Zufälle, &#x017F;oll das Kind auch &#x017F;o<lb/>
Etwas holen mit der An&#x017F;trengung? Es &#x017F;oll mir Einer<lb/>
kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Ge¬<lb/>
richte mit ihm, dann wollen wir &#x017F;ehen, wer mich zwingt!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ihr habt ganz Recht, Nachbar&#x201C;, &#x017F;agte der Herr Pfarrer<lb/>
mit Freundlichkeit; &#x201E;es wäre nicht möglich, das Kind von<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0086] Unterricht zugebracht hat; nächſten Winter kommt es zur Schule und zwar jeden Tag.“ „Ich thu's nicht, Herr Pfarrer“, ſagte der Alte un¬ entwegt. „Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr ſo eigenſinnig bei Eurem unvernünftigen Thun beharren wollt?“ ſagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. „Ihr ſeid weit in der Welt herumgekommen und habt viel geſehen und Vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einſicht zugetraut, Nachbar.“ „So“, ſagte jetzt der Alte und ſeine Stimme verrieth, daß es auch in ſeinem Innern nicht mehr ſo ganz ruhig war; „und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirk¬ lich im nächſten Winter am eiſigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunter¬ ſchicken, zwei Stunden weit und zur Nacht wieder herauf¬ kommen laſſen, wenn's manchmal tobt und thut, daß Unſer¬ einer faſt in Wind und Schnee erſticken müßte und dann ein Kind wie dieſes! Und vielleicht kann ſich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; ſie war mondſüchtig und hatte Zufälle, ſoll das Kind auch ſo Etwas holen mit der Anſtrengung? Es ſoll mir Einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Ge¬ richte mit ihm, dann wollen wir ſehen, wer mich zwingt!“ „Ihr habt ganz Recht, Nachbar“, ſagte der Herr Pfarrer mit Freundlichkeit; „es wäre nicht möglich, das Kind von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/86
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/86>, abgerufen am 10.05.2024.