Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen
schwarze Augen ihn so anfunkelten, daß er unwillkürlich
seine Ruthe niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir
morgen wieder von deinem Käse gibst", sagte dann der
Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er haben
für den Schrecken.

"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und
alle Tage, ich brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustim¬
mend, und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute,
aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen
und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß."

"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei
ihm so viel als eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen
los, und der fröhliche Distelfink sprang in hohen Sprüngen
auf und davon in die Heerde hinein.

So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war
die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinab¬
zugehen. Heidi saß wieder am Boden und schaute ganz
still auf die Blauglöckchen und die Cystusröschen, die im
goldnen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie
golden angehaucht und die Felsen droben fingen zu schim¬
mern und zu funkeln an, und auf einmal sprang Heidi auf
und schrie: "Peter! Peter! es brennt! es brennt! Alle
Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und
der Himmel. O sieh'! sieh'! der hohe Felsenberg ist ganz
glühend! O der schöne, feurige Schnee! Peter, sieh' auf,

Peter ſchaute erſtaunt auf das gebietende Heidi, deſſen
ſchwarze Augen ihn ſo anfunkelten, daß er unwillkürlich
ſeine Ruthe niederhielt. „So kann er gehen, wenn du mir
morgen wieder von deinem Käſe gibſt“, ſagte dann der
Peter nachgebend, denn eine Entſchädigung wollte er haben
für den Schrecken.

„Allen kannſt du haben, das ganze Stück morgen und
alle Tage, ich brauche ihn gar nicht“, ſagte Heidi zuſtim¬
mend, und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute,
aber dann darfſt du den Diſtelfink nie, gar nie ſchlagen
und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß.“

„Es iſt mir gleich“, bemerkte Peter, und das war bei
ihm ſo viel als eine Zuſage. Jetzt ließ er den Schuldigen
los, und der fröhliche Diſtelfink ſprang in hohen Sprüngen
auf und davon in die Heerde hinein.

So war unvermerkt der Tag vergangen, und ſchon war
die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinab¬
zugehen. Heidi ſaß wieder am Boden und ſchaute ganz
ſtill auf die Blauglöckchen und die Cyſtusröschen, die im
goldnen Abendſchein leuchteten, und alles Gras wurde wie
golden angehaucht und die Felſen droben fingen zu ſchim¬
mern und zu funkeln an, und auf einmal ſprang Heidi auf
und ſchrie: „Peter! Peter! es brennt! es brennt! Alle
Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und
der Himmel. O ſieh'! ſieh'! der hohe Felſenberg iſt ganz
glühend! O der ſchöne, feurige Schnee! Peter, ſieh' auf,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0055" n="45"/>
        <p>Peter &#x017F;chaute er&#x017F;taunt auf das gebietende Heidi, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;chwarze Augen ihn &#x017F;o anfunkelten, daß er unwillkürlich<lb/>
&#x017F;eine Ruthe niederhielt. &#x201E;So kann er gehen, wenn du mir<lb/>
morgen wieder von deinem Kä&#x017F;e gib&#x017F;t&#x201C;, &#x017F;agte dann der<lb/>
Peter nachgebend, denn eine Ent&#x017F;chädigung wollte er haben<lb/>
für den Schrecken.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Allen kann&#x017F;t du haben, das ganze Stück morgen und<lb/>
alle Tage, ich brauche ihn gar nicht&#x201C;, &#x017F;agte Heidi zu&#x017F;tim¬<lb/>
mend, und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute,<lb/>
aber dann darf&#x017F;t du den Di&#x017F;telfink nie, gar nie &#x017F;chlagen<lb/>
und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es i&#x017F;t mir gleich&#x201C;, bemerkte Peter, und das war bei<lb/>
ihm &#x017F;o viel als eine Zu&#x017F;age. Jetzt ließ er den Schuldigen<lb/>
los, und der fröhliche Di&#x017F;telfink &#x017F;prang in hohen Sprüngen<lb/>
auf und davon in die Heerde hinein.</p><lb/>
        <p>So war unvermerkt der Tag vergangen, und &#x017F;chon war<lb/>
die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinab¬<lb/>
zugehen. Heidi &#x017F;aß wieder am Boden und &#x017F;chaute ganz<lb/>
&#x017F;till auf die Blauglöckchen und die Cy&#x017F;tusröschen, die im<lb/>
goldnen Abend&#x017F;chein leuchteten, und alles Gras wurde wie<lb/>
golden angehaucht und die Fel&#x017F;en droben fingen zu &#x017F;chim¬<lb/>
mern und zu funkeln an, und auf einmal &#x017F;prang Heidi auf<lb/>
und &#x017F;chrie: &#x201E;Peter! Peter! es brennt! es brennt! Alle<lb/>
Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und<lb/>
der Himmel. O &#x017F;ieh'! &#x017F;ieh'! der hohe Fel&#x017F;enberg i&#x017F;t ganz<lb/>
glühend! O der &#x017F;chöne, feurige Schnee! Peter, &#x017F;ieh' auf,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0055] Peter ſchaute erſtaunt auf das gebietende Heidi, deſſen ſchwarze Augen ihn ſo anfunkelten, daß er unwillkürlich ſeine Ruthe niederhielt. „So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käſe gibſt“, ſagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entſchädigung wollte er haben für den Schrecken. „Allen kannſt du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht“, ſagte Heidi zuſtim¬ mend, und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute, aber dann darfſt du den Diſtelfink nie, gar nie ſchlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß.“ „Es iſt mir gleich“, bemerkte Peter, und das war bei ihm ſo viel als eine Zuſage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche Diſtelfink ſprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Heerde hinein. So war unvermerkt der Tag vergangen, und ſchon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinab¬ zugehen. Heidi ſaß wieder am Boden und ſchaute ganz ſtill auf die Blauglöckchen und die Cyſtusröschen, die im goldnen Abendſchein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felſen droben fingen zu ſchim¬ mern und zu funkeln an, und auf einmal ſprang Heidi auf und ſchrie: „Peter! Peter! es brennt! es brennt! Alle Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O ſieh'! ſieh'! der hohe Felſenberg iſt ganz glühend! O der ſchöne, feurige Schnee! Peter, ſieh' auf,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/55
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/55>, abgerufen am 10.05.2024.