Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Heidi's Hand in die seine, und so wanderten sie mit einander
den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen
Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter
sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken und sagte:
"Hörst du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes
Fest."

Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche
und fingen eben zu singen an, als der Großvater mit
Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank sich
niedersetzte. Aber mitten im Singen stieß der zunächst
Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellbogen an und sagte:
"Hast du das gesehen? der Alm-Oehi ist in der Kirche!"

Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort,
und in kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: "Der Alm-
Oehi! Der Alm-Oehi!" und die Frauen mußten fast alle
einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meisten fielen
ein wenig aus der Melodie, so daß der Vorsänger die
größte Mühe hatte, den Gesang schön aufrecht zu erhalten.
Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging
die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so warmes
Loben und Danken in seinen Worten, daß alle Zuhörer
davon ergriffen wurden und es war, als sei ihnen Allen
eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienst zu
Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand
heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und Alle, die mit
ihm heraustraten und die schon draußen standen, schauten

Heidi's Hand in die ſeine, und ſo wanderten ſie mit einander
den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen
Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter
ſie kamen, und Heidi lauſchte mit Entzücken und ſagte:
„Hörſt du's, Großvater? Es iſt wie ein großes, großes
Feſt.“

Unten im Dörfli waren ſchon alle Leute in der Kirche
und fingen eben zu ſingen an, als der Großvater mit
Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank ſich
niederſetzte. Aber mitten im Singen ſtieß der zunächſt
Sitzende ſeinen Nachbar mit dem Ellbogen an und ſagte:
„Haſt du das geſehen? der Alm-Oehi iſt in der Kirche!“

Und der Angeſtoßene ſtieß den Zweiten an und ſo fort,
und in kürzeſter Zeit flüſterte es an allen Ecken: „Der Alm-
Oehi! Der Alm-Oehi!“ und die Frauen mußten faſt alle
einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meiſten fielen
ein wenig aus der Melodie, ſo daß der Vorſänger die
größte Mühe hatte, den Geſang ſchön aufrecht zu erhalten.
Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging
die Zerſtreutheit ganz vorüber, denn es war ein ſo warmes
Loben und Danken in ſeinen Worten, daß alle Zuhörer
davon ergriffen wurden und es war, als ſei ihnen Allen
eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienſt zu
Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand
heraus und ſchritt dem Pfarrhaus zu, und Alle, die mit
ihm heraustraten und die ſchon draußen ſtanden, ſchauten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0242" n="232"/>
Heidi's Hand in die &#x017F;eine, und &#x017F;o wanderten &#x017F;ie mit einander<lb/>
den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen<lb/>
Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter<lb/>
&#x017F;ie kamen, und Heidi lau&#x017F;chte mit Entzücken und &#x017F;agte:<lb/>
&#x201E;Hör&#x017F;t du's, Großvater? Es i&#x017F;t wie ein großes, großes<lb/>
Fe&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Unten im Dörfli waren &#x017F;chon alle Leute in der Kirche<lb/>
und fingen eben zu &#x017F;ingen an, als der Großvater mit<lb/>
Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank &#x017F;ich<lb/>
nieder&#x017F;etzte. Aber mitten im Singen &#x017F;tieß der zunäch&#x017F;t<lb/>
Sitzende &#x017F;einen Nachbar mit dem Ellbogen an und &#x017F;agte:<lb/>
&#x201E;Ha&#x017F;t du das ge&#x017F;ehen? der Alm-Oehi i&#x017F;t in der Kirche!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Und der Ange&#x017F;toßene &#x017F;tieß den Zweiten an und &#x017F;o fort,<lb/>
und in kürze&#x017F;ter Zeit flü&#x017F;terte es an allen Ecken: &#x201E;Der Alm-<lb/>
Oehi! Der Alm-Oehi!&#x201C; und die Frauen mußten fa&#x017F;t alle<lb/>
einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die mei&#x017F;ten fielen<lb/>
ein wenig aus der Melodie, &#x017F;o daß der Vor&#x017F;änger die<lb/>
größte Mühe hatte, den Ge&#x017F;ang &#x017F;chön aufrecht zu erhalten.<lb/>
Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging<lb/>
die Zer&#x017F;treutheit ganz vorüber, denn es war ein &#x017F;o warmes<lb/>
Loben und Danken in &#x017F;einen Worten, daß alle Zuhörer<lb/>
davon ergriffen wurden und es war, als &#x017F;ei ihnen Allen<lb/>
eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdien&#x017F;t zu<lb/>
Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand<lb/>
heraus und &#x017F;chritt dem Pfarrhaus zu, und Alle, die mit<lb/>
ihm heraustraten und die &#x017F;chon draußen &#x017F;tanden, &#x017F;chauten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0242] Heidi's Hand in die ſeine, und ſo wanderten ſie mit einander den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter ſie kamen, und Heidi lauſchte mit Entzücken und ſagte: „Hörſt du's, Großvater? Es iſt wie ein großes, großes Feſt.“ Unten im Dörfli waren ſchon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu ſingen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank ſich niederſetzte. Aber mitten im Singen ſtieß der zunächſt Sitzende ſeinen Nachbar mit dem Ellbogen an und ſagte: „Haſt du das geſehen? der Alm-Oehi iſt in der Kirche!“ Und der Angeſtoßene ſtieß den Zweiten an und ſo fort, und in kürzeſter Zeit flüſterte es an allen Ecken: „Der Alm- Oehi! Der Alm-Oehi!“ und die Frauen mußten faſt alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meiſten fielen ein wenig aus der Melodie, ſo daß der Vorſänger die größte Mühe hatte, den Geſang ſchön aufrecht zu erhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerſtreutheit ganz vorüber, denn es war ein ſo warmes Loben und Danken in ſeinen Worten, daß alle Zuhörer davon ergriffen wurden und es war, als ſei ihnen Allen eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienſt zu Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand heraus und ſchritt dem Pfarrhaus zu, und Alle, die mit ihm heraustraten und die ſchon draußen ſtanden, ſchauten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/242
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/242>, abgerufen am 27.04.2024.