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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Darf ich erwarten
Im himmlischen Garten,
Dahin sind meine Gedanken gericht't."

Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen
und ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi
nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obschon
ihr die Thränen die Wangen herabliefen. Als Heidi schwieg,
bat sie mit Verlangen: "O, noch einmal, Heidi, laß es
mich noch einmal hören:

"Kreuz und Elende
Das nimmt ein Ende --"

Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener
Freude und Verlangen:

"Kreuz und Elende --
Das nimmt ein Ende;
Nach Meeresbrausen
Und Windessausen
Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.
Freude die Fülle
Und selige Stille
Darf ich erwarten
Im himmlischen Garten,
Dahin sind meine Gedanken gericht't."

"O Heidi, das macht hell! das macht so hell im Her¬
zen! O wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!"

Ein Mal um's andere sagte die Großmutter die Worte

Darf ich erwarten
Im himmliſchen Garten,
Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“

Die Großmutter ſaß ſtill da mit gefalteten Händen
und ein Ausdruck unbeſchreiblicher Freude, ſo wie ihn Heidi
nie an ihr geſehen hatte, lag auf ihrem Geſicht, obſchon
ihr die Thränen die Wangen herabliefen. Als Heidi ſchwieg,
bat ſie mit Verlangen: „O, noch einmal, Heidi, laß es
mich noch einmal hören:

„Kreuz und Elende
Das nimmt ein Ende —“

Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener
Freude und Verlangen:

„Kreuz und Elende —
Das nimmt ein Ende;
Nach Meeresbrauſen
Und Windesſauſen
Leuchtet der Sonne erwünſchtes Geſicht.
Freude die Fülle
Und ſelige Stille
Darf ich erwarten
Im himmliſchen Garten,
Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“

„O Heidi, das macht hell! das macht ſo hell im Her¬
zen! O wie haſt du mir wohl gemacht, Heidi!“

Ein Mal um's andere ſagte die Großmutter die Worte

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[224/0234] Darf ich erwarten Im himmliſchen Garten, Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“ Die Großmutter ſaß ſtill da mit gefalteten Händen und ein Ausdruck unbeſchreiblicher Freude, ſo wie ihn Heidi nie an ihr geſehen hatte, lag auf ihrem Geſicht, obſchon ihr die Thränen die Wangen herabliefen. Als Heidi ſchwieg, bat ſie mit Verlangen: „O, noch einmal, Heidi, laß es mich noch einmal hören: „Kreuz und Elende Das nimmt ein Ende —“ Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und Verlangen: „Kreuz und Elende — Das nimmt ein Ende; Nach Meeresbrauſen Und Windesſauſen Leuchtet der Sonne erwünſchtes Geſicht. Freude die Fülle Und ſelige Stille Darf ich erwarten Im himmliſchen Garten, Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“ „O Heidi, das macht hell! das macht ſo hell im Her¬ zen! O wie haſt du mir wohl gemacht, Heidi!“ Ein Mal um's andere ſagte die Großmutter die Worte

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/234>, abgerufen am 28.04.2024.