Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

leise hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz
verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schönes
Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun
mit bloßen Armen dastand, band es das rothe Halstuch,
und nun faßte es die Hand der Großmutter und sagte:
"Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm'
ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter."

"Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen
wieder", bat die Großmutter, und drückte seine Hand zwi¬
schen den ihrigen und konnte das Kind fast nicht los¬
lassen.

"Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausge¬
zogen?" fragte die Brigitte.

"Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er
mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht
gekannt darin."

Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus,
und hier sagte sie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: "Den
Rock hättest du schon anbehalten können, er hätte dich doch
gekannt; aber sonst mußt du dich in Acht nehmen, der
Peterli sagt, der Alm-Oehi sei jetzt immer bös und rede
kein Wort mehr."

Heidi sagte gute Nacht und stieg die Alm hinan mit
seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum
auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große
Schneefeld am Cäsaplana sichtbar geworden und strahlte

leiſe hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz
verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal ſein ſchönes
Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun
mit bloßen Armen daſtand, band es das rothe Halstuch,
und nun faßte es die Hand der Großmutter und ſagte:
„Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm'
ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.“

„Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen
wieder“, bat die Großmutter, und drückte ſeine Hand zwi¬
ſchen den ihrigen und konnte das Kind faſt nicht los¬
laſſen.

„Warum haſt du denn dein ſchönes Röcklein ausge¬
zogen?“ fragte die Brigitte.

„Weil ich lieber ſo zum Großvater will, ſonſt kennt er
mich vielleicht nicht mehr, du haſt mich ja auch faſt nicht
gekannt darin.“

Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus,
und hier ſagte ſie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: „Den
Rock hätteſt du ſchon anbehalten können, er hätte dich doch
gekannt; aber ſonſt mußt du dich in Acht nehmen, der
Peterli ſagt, der Alm-Oehi ſei jetzt immer bös und rede
kein Wort mehr.“

Heidi ſagte gute Nacht und ſtieg die Alm hinan mit
ſeinem Korb am Arm. Die Abendſonne leuchtete ringsum
auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große
Schneefeld am Cäſaplana ſichtbar geworden und ſtrahlte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0222" n="212"/>
lei&#x017F;e hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz<lb/>
verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal &#x017F;ein &#x017F;chönes<lb/>
Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun<lb/>
mit bloßen Armen da&#x017F;tand, band es das rothe Halstuch,<lb/>
und nun faßte es die Hand der Großmutter und &#x017F;agte:<lb/>
&#x201E;Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm'<lb/>
ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen<lb/>
wieder&#x201C;, bat die Großmutter, und drückte &#x017F;eine Hand zwi¬<lb/>
&#x017F;chen den ihrigen und konnte das Kind fa&#x017F;t nicht los¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Warum ha&#x017F;t du denn dein &#x017F;chönes Röcklein ausge¬<lb/>
zogen?&#x201C; fragte die Brigitte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Weil ich lieber &#x017F;o zum Großvater will, &#x017F;on&#x017F;t kennt er<lb/>
mich vielleicht nicht mehr, du ha&#x017F;t mich ja auch fa&#x017F;t nicht<lb/>
gekannt darin.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus,<lb/>
und hier &#x017F;agte &#x017F;ie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: &#x201E;Den<lb/>
Rock hätte&#x017F;t du &#x017F;chon anbehalten können, er hätte dich doch<lb/>
gekannt; aber &#x017F;on&#x017F;t mußt du dich in Acht nehmen, der<lb/>
Peterli &#x017F;agt, der Alm-Oehi &#x017F;ei jetzt immer bös und rede<lb/>
kein Wort mehr.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Heidi &#x017F;agte gute Nacht und &#x017F;tieg die Alm hinan mit<lb/>
&#x017F;einem Korb am Arm. Die Abend&#x017F;onne leuchtete ringsum<lb/>
auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große<lb/>
Schneefeld am Cä&#x017F;aplana &#x017F;ichtbar geworden und &#x017F;trahlte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0222] leiſe hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal ſein ſchönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen daſtand, band es das rothe Halstuch, und nun faßte es die Hand der Großmutter und ſagte: „Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm' ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.“ „Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen wieder“, bat die Großmutter, und drückte ſeine Hand zwi¬ ſchen den ihrigen und konnte das Kind faſt nicht los¬ laſſen. „Warum haſt du denn dein ſchönes Röcklein ausge¬ zogen?“ fragte die Brigitte. „Weil ich lieber ſo zum Großvater will, ſonſt kennt er mich vielleicht nicht mehr, du haſt mich ja auch faſt nicht gekannt darin.“ Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus, und hier ſagte ſie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: „Den Rock hätteſt du ſchon anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber ſonſt mußt du dich in Acht nehmen, der Peterli ſagt, der Alm-Oehi ſei jetzt immer bös und rede kein Wort mehr.“ Heidi ſagte gute Nacht und ſtieg die Alm hinan mit ſeinem Korb am Arm. Die Abendſonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld am Cäſaplana ſichtbar geworden und ſtrahlte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/222
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/222>, abgerufen am 28.04.2024.