Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

unheimliche Vorgang noch nach sich ziehen könne. Herr
Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm unmöglich, so
plötzlich Alles liegen zu lassen und nach Hause zu kommen.
Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe
geben, so möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann
schreiben und sie fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu
Hülfe kommen wollte, gewiß würde seine Mutter in kürzester
Zeit mit den Gespenstern fertig, und diese trauten sich
nachher sicher so bald nicht wieder, sein Haus zu beunruhigen.
Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton
dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefaßt.
Sie schrieb unverzüglich an Frau Sesemann, aber von
dieser Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die
Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau
Sesemann schrieb, sie gedenke nicht extra von Holstein nach
Frankfurt hinunterzureisen, weil die Rottenmeier Gespenster
sehe. Uebrigens sei niemals ein Gespenst gesehen worden
im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines darin herum¬
fahre, so könne es nur ein lebendiges sein, mit dem die
Rottenmeier sich sollte verständigen können; wo nicht, so
solle sie die Nachtwächter zu Hülfe rufen.

Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage
nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und sie wußte sich zu
helfen. Bis dahin hatte sie den beiden Kindern Nichts von
der Geistererscheinung gesagt, denn sie befürchtete, die Kinder

unheimliche Vorgang noch nach ſich ziehen könne. Herr
Seſemann antwortete umgehend, es ſei ihm unmöglich, ſo
plötzlich Alles liegen zu laſſen und nach Hauſe zu kommen.
Die Geſpenſtergeſchichte ſei ihm ſehr befremdend, er hoffe
auch, ſie ſei vorübergehend; ſollte es indeſſen keine Ruhe
geben, ſo möge Fräulein Rottenmeier an Frau Seſemann
ſchreiben und ſie fragen, ob ſie nicht nach Frankfurt zu
Hülfe kommen wollte, gewiß würde ſeine Mutter in kürzeſter
Zeit mit den Geſpenſtern fertig, und dieſe trauten ſich
nachher ſicher ſo bald nicht wieder, ſein Haus zu beunruhigen.
Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton
dieſes Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernſt aufgefaßt.
Sie ſchrieb unverzüglich an Frau Seſemann, aber von
dieſer Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die
Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau
Seſemann ſchrieb, ſie gedenke nicht extra von Holſtein nach
Frankfurt hinunterzureiſen, weil die Rottenmeier Geſpenſter
ſehe. Uebrigens ſei niemals ein Geſpenſt geſehen worden
im Hauſe Seſemann, und wenn jetzt eines darin herum¬
fahre, ſo könne es nur ein lebendiges ſein, mit dem die
Rottenmeier ſich ſollte verſtändigen können; wo nicht, ſo
ſolle ſie die Nachtwächter zu Hülfe rufen.

Aber Fräulein Rottenmeier war entſchloſſen, ihre Tage
nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und ſie wußte ſich zu
helfen. Bis dahin hatte ſie den beiden Kindern Nichts von
der Geiſtererſcheinung geſagt, denn ſie befürchtete, die Kinder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0190" n="180"/>
unheimliche Vorgang noch nach &#x017F;ich ziehen könne. Herr<lb/>
Se&#x017F;emann antwortete umgehend, es &#x017F;ei ihm unmöglich, &#x017F;o<lb/>
plötzlich Alles liegen zu la&#x017F;&#x017F;en und nach Hau&#x017F;e zu kommen.<lb/>
Die Ge&#x017F;pen&#x017F;terge&#x017F;chichte &#x017F;ei ihm &#x017F;ehr befremdend, er hoffe<lb/>
auch, &#x017F;ie &#x017F;ei vorübergehend; &#x017F;ollte es inde&#x017F;&#x017F;en keine Ruhe<lb/>
geben, &#x017F;o möge Fräulein Rottenmeier an Frau Se&#x017F;emann<lb/>
&#x017F;chreiben und &#x017F;ie fragen, ob &#x017F;ie nicht nach Frankfurt zu<lb/>
Hülfe kommen wollte, gewiß würde &#x017F;eine Mutter in kürze&#x017F;ter<lb/>
Zeit mit den Ge&#x017F;pen&#x017F;tern fertig, und die&#x017F;e trauten &#x017F;ich<lb/>
nachher &#x017F;icher &#x017F;o bald nicht wieder, &#x017F;ein Haus zu beunruhigen.<lb/>
Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton<lb/>
die&#x017F;es Briefes; die Sache war ihr zu wenig ern&#x017F;t aufgefaßt.<lb/>
Sie &#x017F;chrieb unverzüglich an Frau Se&#x017F;emann, aber von<lb/>
die&#x017F;er Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die<lb/>
Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau<lb/>
Se&#x017F;emann &#x017F;chrieb, &#x017F;ie gedenke nicht extra von Hol&#x017F;tein nach<lb/>
Frankfurt hinunterzurei&#x017F;en, weil die Rottenmeier Ge&#x017F;pen&#x017F;ter<lb/>
&#x017F;ehe. Uebrigens &#x017F;ei niemals ein Ge&#x017F;pen&#x017F;t ge&#x017F;ehen worden<lb/>
im Hau&#x017F;e Se&#x017F;emann, und wenn jetzt eines darin herum¬<lb/>
fahre, &#x017F;o könne es nur ein lebendiges &#x017F;ein, mit dem die<lb/>
Rottenmeier &#x017F;ich &#x017F;ollte ver&#x017F;tändigen können; wo nicht, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;olle &#x017F;ie die Nachtwächter zu Hülfe rufen.</p><lb/>
        <p>Aber Fräulein Rottenmeier war ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, ihre Tage<lb/>
nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und &#x017F;ie wußte &#x017F;ich zu<lb/>
helfen. Bis dahin hatte &#x017F;ie den beiden Kindern Nichts von<lb/>
der Gei&#x017F;terer&#x017F;cheinung ge&#x017F;agt, denn &#x017F;ie befürchtete, die Kinder<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0190] unheimliche Vorgang noch nach ſich ziehen könne. Herr Seſemann antwortete umgehend, es ſei ihm unmöglich, ſo plötzlich Alles liegen zu laſſen und nach Hauſe zu kommen. Die Geſpenſtergeſchichte ſei ihm ſehr befremdend, er hoffe auch, ſie ſei vorübergehend; ſollte es indeſſen keine Ruhe geben, ſo möge Fräulein Rottenmeier an Frau Seſemann ſchreiben und ſie fragen, ob ſie nicht nach Frankfurt zu Hülfe kommen wollte, gewiß würde ſeine Mutter in kürzeſter Zeit mit den Geſpenſtern fertig, und dieſe trauten ſich nachher ſicher ſo bald nicht wieder, ſein Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieſes Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernſt aufgefaßt. Sie ſchrieb unverzüglich an Frau Seſemann, aber von dieſer Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Seſemann ſchrieb, ſie gedenke nicht extra von Holſtein nach Frankfurt hinunterzureiſen, weil die Rottenmeier Geſpenſter ſehe. Uebrigens ſei niemals ein Geſpenſt geſehen worden im Hauſe Seſemann, und wenn jetzt eines darin herum¬ fahre, ſo könne es nur ein lebendiges ſein, mit dem die Rottenmeier ſich ſollte verſtändigen können; wo nicht, ſo ſolle ſie die Nachtwächter zu Hülfe rufen. Aber Fräulein Rottenmeier war entſchloſſen, ihre Tage nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und ſie wußte ſich zu helfen. Bis dahin hatte ſie den beiden Kindern Nichts von der Geiſtererſcheinung geſagt, denn ſie befürchtete, die Kinder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/190
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/190>, abgerufen am 23.11.2024.