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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in seinem
Zimmer sein schönes Buch ansehen, und von dem Tage an
war es sein Liebstes, über seinem Buch zu sitzen und immer
wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen, bunten
Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: "Nun
liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr beglückt, denn
das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Ge¬
schichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner
und verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann
noch so Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am
liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grüne Weide
und den Hirten mitten unter der Heerde, wie er so ver¬
gnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da
war er noch bei der schönen Heerde des Vaters und ging
nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn
freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus
weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen
hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Trä¬
bern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde
schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das
Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu
der Geschichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten
Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden,
reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz
furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams da¬
herkam. Das war Heidi's Lieblingsgeschichte, die es immer

Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in ſeinem
Zimmer ſein ſchönes Buch anſehen, und von dem Tage an
war es ſein Liebſtes, über ſeinem Buch zu ſitzen und immer
wieder die Geſchichten zu leſen, zu denen die ſchönen, bunten
Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun
lieſt uns Heidi vor“, ſo war das Kind ſehr beglückt, denn
das Leſen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Ge¬
ſchichten laut vorlas, ſo kamen ſie ihm noch viel ſchöner
und verſtändlicher vor, und die Großmama erklärte dann
noch ſo Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am
liebſten beſchaute Heidi immer wieder ſeine grüne Weide
und den Hirten mitten unter der Heerde, wie er ſo ver¬
gnüglich, auf ſeinen langen Stab gelehnt, daſtand, denn da
war er noch bei der ſchönen Heerde des Vaters und ging
nur den luſtigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn
freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus
weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen
hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Trä¬
bern, die er allein noch zu eſſen bekam. Und auf dem Bilde
ſchien auch die Sonne nicht mehr ſo golden, da war das
Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu
der Geſchichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten
Armen aus dem Hauſe heraus und lief dem heimkehrenden,
reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz
furchtſam und abgemagert in einem zerriſſenen Wams da¬
herkam. Das war Heidi's Lieblingsgeſchichte, die es immer

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[164/0174] Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in ſeinem Zimmer ſein ſchönes Buch anſehen, und von dem Tage an war es ſein Liebſtes, über ſeinem Buch zu ſitzen und immer wieder die Geſchichten zu leſen, zu denen die ſchönen, bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun lieſt uns Heidi vor“, ſo war das Kind ſehr beglückt, denn das Leſen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Ge¬ ſchichten laut vorlas, ſo kamen ſie ihm noch viel ſchöner und verſtändlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch ſo Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am liebſten beſchaute Heidi immer wieder ſeine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Heerde, wie er ſo ver¬ gnüglich, auf ſeinen langen Stab gelehnt, daſtand, denn da war er noch bei der ſchönen Heerde des Vaters und ging nur den luſtigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Trä¬ bern, die er allein noch zu eſſen bekam. Und auf dem Bilde ſchien auch die Sonne nicht mehr ſo golden, da war das Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geſchichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hauſe heraus und lief dem heimkehrenden, reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtſam und abgemagert in einem zerriſſenen Wams da¬ herkam. Das war Heidi's Lieblingsgeſchichte, die es immer

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/174>, abgerufen am 23.11.2024.