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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?" fragte
die Großmama.

"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und
sah dabei so unglücklich aus, daß es die Großmama er¬
barmte.

"Komm', Kind", sagte sie, "ich will dir 'was sagen:
Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen
sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel
und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid ab¬
helfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht wahr?
Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel
und dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, daß er dich
vor allem Bösen behüte?"

"O nein, das thu' ich nie", antwortete das Kind.

"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht,
was das ist?"

"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber
es ist schon lang, und jetzt habe ich es vergessen."

"Siehst du, Heidi, darum mußt du so traurig sein,
weil du jetzt gar Niemanden kennst, der dir helfen kann.
Denk' einmal nach, wie wohl das thun muß, wenn Einen
im Herzen Etwas immerfort drückt und quält und man
kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
ihm Alles sagen und ihn bitten, daß er helfe, wo uns sonst
gar Niemand helfen kann! Und er kann überall helfen
und uns geben, was uns wieder froh macht."

„Nicht? Kann man es etwa der Klara ſagen?“ fragte
die Großmama.

„O nein, keinem Menſchen“, verſicherte Heidi und
ſah dabei ſo unglücklich aus, daß es die Großmama er¬
barmte.

„Komm', Kind“, ſagte ſie, „ich will dir 'was ſagen:
Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menſchen
ſagen kann, ſo klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel
und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid ab¬
helfen, das uns drückt. Das verſtehſt du, nicht wahr?
Du beteſt doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel
und dankſt ihm für alles Gute und bitteſt ihn, daß er dich
vor allem Böſen behüte?“

„O nein, das thu' ich nie“, antwortete das Kind.

„Haſt du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht,
was das iſt?“

„Nur mit der erſten Großmutter habe ich gebetet, aber
es iſt ſchon lang, und jetzt habe ich es vergeſſen.“

„Siehſt du, Heidi, darum mußt du ſo traurig ſein,
weil du jetzt gar Niemanden kennſt, der dir helfen kann.
Denk' einmal nach, wie wohl das thun muß, wenn Einen
im Herzen Etwas immerfort drückt und quält und man
kann ſo jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
ihm Alles ſagen und ihn bitten, daß er helfe, wo uns ſonſt
gar Niemand helfen kann! Und er kann überall helfen
und uns geben, was uns wieder froh macht.“

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[160/0170] „Nicht? Kann man es etwa der Klara ſagen?“ fragte die Großmama. „O nein, keinem Menſchen“, verſicherte Heidi und ſah dabei ſo unglücklich aus, daß es die Großmama er¬ barmte. „Komm', Kind“, ſagte ſie, „ich will dir 'was ſagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menſchen ſagen kann, ſo klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid ab¬ helfen, das uns drückt. Das verſtehſt du, nicht wahr? Du beteſt doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankſt ihm für alles Gute und bitteſt ihn, daß er dich vor allem Böſen behüte?“ „O nein, das thu' ich nie“, antwortete das Kind. „Haſt du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das iſt?“ „Nur mit der erſten Großmutter habe ich gebetet, aber es iſt ſchon lang, und jetzt habe ich es vergeſſen.“ „Siehſt du, Heidi, darum mußt du ſo traurig ſein, weil du jetzt gar Niemanden kennſt, der dir helfen kann. Denk' einmal nach, wie wohl das thun muß, wenn Einen im Herzen Etwas immerfort drückt und quält und man kann ſo jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm Alles ſagen und ihn bitten, daß er helfe, wo uns ſonſt gar Niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.“

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/170>, abgerufen am 27.11.2024.