Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Sesemann. "Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für
einmal die Bilder in den Büchern ansehen."

Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken,
aber Frau Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging
rasch ihrem Zimmer zu. Sie mußte sich sehr verwundern
über die Nachricht von Heidi's Beschränktheit und gedachte,
die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Can¬
didaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen
sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit
ihm zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr
schnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit
ihm verwickelt zu werden, denn seine Ausdrucksweise war
ihr ein wenig beschwerlich.

Heidi erschien im Zimmer der Großmama und macht
die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder
in den großen Büchern sah, welche die Großmama mit
gebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als
die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann
stürzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den Augen
und es fing gewaltig zu schluchzen an. Die Großmama
schaute auf das Bild. Es war eine schöne, grüne Weide,
wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen
Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf
einen langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen
Thierchen zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt,

Seſemann. „Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für
einmal die Bilder in den Büchern anſehen.“

Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken,
aber Frau Seſemann hatte ſich ſchon umgewandt und ging
raſch ihrem Zimmer zu. Sie mußte ſich ſehr verwundern
über die Nachricht von Heidi's Beſchränktheit und gedachte,
die Sache zu unterſuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Can¬
didaten, den ſie zwar um ſeines guten Charakters willen
ſehr ſchätzte; ſie grüßte ihn auch immer, wenn ſie mit
ihm zuſammentraf, überaus freundlich, lief dann aber ſehr
ſchnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Geſpräch mit
ihm verwickelt zu werden, denn ſeine Ausdrucksweiſe war
ihr ein wenig beſchwerlich.

Heidi erſchien im Zimmer der Großmama und macht
die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder
in den großen Büchern ſah, welche die Großmama mit
gebracht hatte. Auf einmal ſchrie Heidi laut auf, als
die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
glühendem Blick ſchaute es auf die Figuren, dann
ſtürzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den Augen
und es fing gewaltig zu ſchluchzen an. Die Großmama
ſchaute auf das Bild. Es war eine ſchöne, grüne Weide,
wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen
Gebüſchen nagten. In der Mitte ſtand der Hirt, auf
einen langen Stab geſtützt, der ſchaute den fröhlichen
Thierchen zu. Alles war wie in Goldſchimmer gemalt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0165" n="155"/>
Se&#x017F;emann. &#x201E;Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für<lb/>
einmal die Bilder in den Büchern an&#x017F;ehen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken,<lb/>
aber Frau Se&#x017F;emann hatte &#x017F;ich &#x017F;chon umgewandt und ging<lb/>
ra&#x017F;ch ihrem Zimmer zu. Sie mußte &#x017F;ich &#x017F;ehr verwundern<lb/>
über die Nachricht von Heidi's Be&#x017F;chränktheit und gedachte,<lb/>
die Sache zu unter&#x017F;uchen, jedoch nicht mit dem Herrn Can¬<lb/>
didaten, den &#x017F;ie zwar um &#x017F;eines guten Charakters willen<lb/>
&#x017F;ehr &#x017F;chätzte; &#x017F;ie grüßte ihn auch immer, wenn &#x017F;ie mit<lb/>
ihm zu&#x017F;ammentraf, überaus freundlich, lief dann aber &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;chnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Ge&#x017F;präch mit<lb/>
ihm verwickelt zu werden, denn &#x017F;eine Ausdruckswei&#x017F;e war<lb/>
ihr ein wenig be&#x017F;chwerlich.</p><lb/>
        <p>Heidi er&#x017F;chien im Zimmer der Großmama und macht<lb/>
die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder<lb/>
in den großen Büchern &#x017F;ah, welche die Großmama <choice><sic>mite</sic><corr>mit</corr></choice><lb/>
gebracht hatte. Auf einmal &#x017F;chrie Heidi laut auf, als<lb/>
die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit<lb/>
glühendem Blick &#x017F;chaute es auf die Figuren, dann<lb/>
&#x017F;türzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den <choice><sic>Augen¬</sic><corr>Augen</corr></choice><lb/>
und es fing gewaltig zu &#x017F;chluchzen an. Die Großmama<lb/>
&#x017F;chaute auf das Bild. Es war eine &#x017F;chöne, grüne Weide,<lb/>
wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen<lb/>
Gebü&#x017F;chen nagten. In der Mitte &#x017F;tand der Hirt, auf<lb/>
einen langen Stab ge&#x017F;tützt, der &#x017F;chaute den fröhlichen<lb/>
Thierchen zu. Alles war wie in Gold&#x017F;chimmer gemalt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0165] Seſemann. „Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für einmal die Bilder in den Büchern anſehen.“ Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken, aber Frau Seſemann hatte ſich ſchon umgewandt und ging raſch ihrem Zimmer zu. Sie mußte ſich ſehr verwundern über die Nachricht von Heidi's Beſchränktheit und gedachte, die Sache zu unterſuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Can¬ didaten, den ſie zwar um ſeines guten Charakters willen ſehr ſchätzte; ſie grüßte ihn auch immer, wenn ſie mit ihm zuſammentraf, überaus freundlich, lief dann aber ſehr ſchnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Geſpräch mit ihm verwickelt zu werden, denn ſeine Ausdrucksweiſe war ihr ein wenig beſchwerlich. Heidi erſchien im Zimmer der Großmama und macht die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern ſah, welche die Großmama mit gebracht hatte. Auf einmal ſchrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit glühendem Blick ſchaute es auf die Figuren, dann ſtürzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den Augen und es fing gewaltig zu ſchluchzen an. Die Großmama ſchaute auf das Bild. Es war eine ſchöne, grüne Weide, wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen Gebüſchen nagten. In der Mitte ſtand der Hirt, auf einen langen Stab geſtützt, der ſchaute den fröhlichen Thierchen zu. Alles war wie in Goldſchimmer gemalt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/165
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/165>, abgerufen am 03.05.2024.