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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Wort, aber fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke
zu Heidi hinüber, so als erwartete sie, es könnte plötzlich
etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi saß mäuschen¬
still am Tisch und rührte sich nicht, es aß nicht und trank
nicht; nur sein Brödchen hatte es schnell in die Tasche ge¬
steckt.

Am folgenden Morgen, als der Herr Candidat die
Treppe heraufkam, winkte ihm Fräulein Rottenmeier ge¬
heimnißvoll in's Eßzimmer herein, und hier theilte sie ihm
in großer Aufregung ihre Besorgniß mit, die Luftverände¬
rung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte
ihm von Heidi's Fluchtversuch und wiederholte ihm von
seinen sonderbaren Reden, was sie noch wußte. Aber der
Herr Candidat besänftigte und beruhigte Fräulein Rotten¬
meier, indem er sie versicherte, daß er die Wahrnehmung
gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings
eher excentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem
Verstand, so daß sich nach und nach bei einer allseitig er¬
wogenen Behandlung das nöthige Gleichgewicht einstellen
könne, was er im Auge habe; er finde den Umstand wich¬
tiger, daß er durchaus nicht über das ABC hinaus¬
komme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen
im Stande sei.

Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ
den Herrn Candidaten zu seiner Arbeit. Am spätern Nach¬

Wort, aber fortwährend warf ſie ſonderbar wachſame Blicke
zu Heidi hinüber, ſo als erwartete ſie, es könnte plötzlich
etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi ſaß mäuschen¬
ſtill am Tiſch und rührte ſich nicht, es aß nicht und trank
nicht; nur ſein Brödchen hatte es ſchnell in die Taſche ge¬
ſteckt.

Am folgenden Morgen, als der Herr Candidat die
Treppe heraufkam, winkte ihm Fräulein Rottenmeier ge¬
heimnißvoll in's Eßzimmer herein, und hier theilte ſie ihm
in großer Aufregung ihre Beſorgniß mit, die Luftverände¬
rung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
hätten das Kind um den Verſtand gebracht, und ſie erzählte
ihm von Heidi's Fluchtverſuch und wiederholte ihm von
ſeinen ſonderbaren Reden, was ſie noch wußte. Aber der
Herr Candidat beſänftigte und beruhigte Fräulein Rotten¬
meier, indem er ſie verſicherte, daß er die Wahrnehmung
gemacht habe, die Adelheid ſei zwar einerſeits allerdings
eher excentriſch, aber anderſeits doch wieder bei richtigem
Verſtand, ſo daß ſich nach und nach bei einer allſeitig er¬
wogenen Behandlung das nöthige Gleichgewicht einſtellen
könne, was er im Auge habe; er finde den Umſtand wich¬
tiger, daß er durchaus nicht über das ABC hinaus¬
komme mit ihr, indem ſie die Buchſtaben nicht zu faſſen
im Stande ſei.

Fräulein Rottenmeier fühlte ſich beruhigter und entließ
den Herrn Candidaten zu ſeiner Arbeit. Am ſpätern Nach¬

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[136/0146] Wort, aber fortwährend warf ſie ſonderbar wachſame Blicke zu Heidi hinüber, ſo als erwartete ſie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi ſaß mäuschen¬ ſtill am Tiſch und rührte ſich nicht, es aß nicht und trank nicht; nur ſein Brödchen hatte es ſchnell in die Taſche ge¬ ſteckt. Am folgenden Morgen, als der Herr Candidat die Treppe heraufkam, winkte ihm Fräulein Rottenmeier ge¬ heimnißvoll in's Eßzimmer herein, und hier theilte ſie ihm in großer Aufregung ihre Beſorgniß mit, die Luftverände¬ rung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke hätten das Kind um den Verſtand gebracht, und ſie erzählte ihm von Heidi's Fluchtverſuch und wiederholte ihm von ſeinen ſonderbaren Reden, was ſie noch wußte. Aber der Herr Candidat beſänftigte und beruhigte Fräulein Rotten¬ meier, indem er ſie verſicherte, daß er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid ſei zwar einerſeits allerdings eher excentriſch, aber anderſeits doch wieder bei richtigem Verſtand, ſo daß ſich nach und nach bei einer allſeitig er¬ wogenen Behandlung das nöthige Gleichgewicht einſtellen könne, was er im Auge habe; er finde den Umſtand wich¬ tiger, daß er durchaus nicht über das ABC hinaus¬ komme mit ihr, indem ſie die Buchſtaben nicht zu faſſen im Stande ſei. Fräulein Rottenmeier fühlte ſich beruhigter und entließ den Herrn Candidaten zu ſeiner Arbeit. Am ſpätern Nach¬

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/146>, abgerufen am 24.11.2024.