Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rothes Baumwollentuch um und um gebunden, so daß die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Thal aufwärts mochten die Beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und "im Dörfli" heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Hausthüre und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in seinem Heimatsort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zu¬ gerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Thür: "Wart' einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst."
Die Angeredete stand still, sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.
"Bist du müde, Heidi?" fragte die Begleiterin.
"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
"Wir sind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben", ermunterte die Gefährtin.
Jetzt trat eine breite, gutmüthig aussehende Frau aus der Thür und gesellte sich zu den Beiden. Das Kind war auf¬
Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rothes Baumwollentuch um und um gebunden, ſo daß die kleine Perſon eine völlig formloſe Figur darſtellte, die, in zwei ſchwere, mit Nägeln beſchlagene Bergſchuhe geſteckt, ſich heiß und mühſam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Thal aufwärts mochten die Beiden geſtiegen ſein, als ſie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und „im Dörfli“ heißt. Hier wurden die Wandernden faſt von jedem Hauſe aus angerufen, einmal vom Fenſter, einmal von einer Hausthüre und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in ſeinem Heimatsort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, ſondern erwiderte alle zu¬ gerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne ſtill zu ſtehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerſtreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Thür: „Wart' einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehſt.“
Die Angeredete ſtand ſtill, ſofort machte ſich das Kind von ihrer Hand los und ſetzte ſich auf den Boden.
„Biſt du müde, Heidi?“ fragte die Begleiterin.
„Nein, es iſt mir heiß“, entgegnete das Kind.
„Wir ſind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein wenig anſtrengen und große Schritte nehmen, dann ſind wir in einer Stunde oben“, ermunterte die Gefährtin.
Jetzt trat eine breite, gutmüthig ausſehende Frau aus der Thür und geſellte ſich zu den Beiden. Das Kind war auf¬
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Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes,
rothes Baumwollentuch um und um gebunden, ſo daß die kleine
Perſon eine völlig formloſe Figur darſtellte, die, in zwei
ſchwere, mit Nägeln beſchlagene Bergſchuhe geſteckt, ſich heiß
und mühſam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom
Thal aufwärts mochten die Beiden geſtiegen ſein, als ſie
zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt
und „im Dörfli“ heißt. Hier wurden die Wandernden
faſt von jedem Hauſe aus angerufen, einmal vom Fenſter,
einmal von einer Hausthüre und einmal vom Wege her,
denn das Mädchen war in ſeinem Heimatsort angelangt.
Es machte aber nirgends Halt, ſondern erwiderte alle zu¬
gerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne ſtill zu
ſtehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der
zerſtreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer
Thür: „Wart' einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn
du weiter hinaufgehſt.“
Die Angeredete ſtand ſtill, ſofort machte ſich das Kind
von ihrer Hand los und ſetzte ſich auf den Boden.
„Biſt du müde, Heidi?“ fragte die Begleiterin.
„Nein, es iſt mir heiß“, entgegnete das Kind.
„Wir ſind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein
wenig anſtrengen und große Schritte nehmen, dann ſind
wir in einer Stunde oben“, ermunterte die Gefährtin.
Jetzt trat eine breite, gutmüthig ausſehende Frau aus der
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/12>, abgerufen am 22.07.2024.
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