Tochter gehalten werden, und dieses Wort mußte sich haupt¬ sächlich auf das Verhältniß zu den Dienstboten beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegen¬ stände und dann ein Hülferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag auf dem Boden Alles übereinander, die sämmtlichen Studien-Hülfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfaß und obendarauf der Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloß, die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
"Da haben wir's!" rief Fräulein Rottenmeier hände¬ ringend aus. "Teppich, Bücher, Arbeitskorb, Alles in der Tinte! das ist noch nie geschehen! das ist das Unglücks¬ wesen, da ist kein Zweifel!"
Der Herr Candidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die Verwüstung, die für einmal nur Eine Seite hatte und eine recht bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun erklärend: "Ja, Heidi hat's ge¬ macht, aber nicht mit Absicht, es muß gewiß nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig, fortzukommen und riß den Teppich mit und so fiel Alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen nacheinander vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie eine Kutsche gesehen."
Tochter gehalten werden, und dieſes Wort mußte ſich haupt¬ ſächlich auf das Verhältniß zu den Dienſtboten beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange ungeſtört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im Studierzimmer ein erſchreckliches Gekrache fallender Gegen¬ ſtände und dann ein Hülferuf nach Sebaſtian. Sie ſtürzte hinein. Da lag auf dem Boden Alles übereinander, die ſämmtlichen Studien-Hülfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfaß und obendarauf der Tiſchteppich, unter dem ein ſchwarzes Tintenbächlein hervorfloß, die ganze Stube entlang. Heidi war verſchwunden.
„Da haben wir's!“ rief Fräulein Rottenmeier hände¬ ringend aus. „Teppich, Bücher, Arbeitskorb, Alles in der Tinte! das iſt noch nie geſchehen! das iſt das Unglücks¬ weſen, da iſt kein Zweifel!“
Der Herr Candidat ſtand ſehr erſchrocken da und ſchaute auf die Verwüſtung, die für einmal nur Eine Seite hatte und eine recht beſtürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Geſicht die ungewöhnlichen Ereigniſſe und deren Wirkungen und ſagte nun erklärend: „Ja, Heidi hat's ge¬ macht, aber nicht mit Abſicht, es muß gewiß nicht geſtraft werden, es war nur ſo ſchrecklich eilig, fortzukommen und riß den Teppich mit und ſo fiel Alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen nacheinander vorbei, darum iſt es ſo fortgeſchoſſen; es hat vielleicht noch nie eine Kutſche geſehen.“
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Tochter gehalten werden, und dieſes Wort mußte ſich haupt¬
ſächlich auf das Verhältniß zu den Dienſtboten beziehen,
dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
ungeſtört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
Studierzimmer ein erſchreckliches Gekrache fallender Gegen¬
ſtände und dann ein Hülferuf nach Sebaſtian. Sie ſtürzte
hinein. Da lag auf dem Boden Alles übereinander, die
ſämmtlichen Studien-Hülfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfaß
und obendarauf der Tiſchteppich, unter dem ein ſchwarzes
Tintenbächlein hervorfloß, die ganze Stube entlang. Heidi
war verſchwunden.
„Da haben wir's!“ rief Fräulein Rottenmeier hände¬
ringend aus. „Teppich, Bücher, Arbeitskorb, Alles in der
Tinte! das iſt noch nie geſchehen! das iſt das Unglücks¬
weſen, da iſt kein Zweifel!“
Der Herr Candidat ſtand ſehr erſchrocken da und ſchaute
auf die Verwüſtung, die für einmal nur Eine Seite hatte
und eine recht beſtürzende. Klara dagegen verfolgte mit
vergnügtem Geſicht die ungewöhnlichen Ereigniſſe und deren
Wirkungen und ſagte nun erklärend: „Ja, Heidi hat's ge¬
macht, aber nicht mit Abſicht, es muß gewiß nicht geſtraft
werden, es war nur ſo ſchrecklich eilig, fortzukommen und
riß den Teppich mit und ſo fiel Alles hintereinander auf
den Boden. Es fuhren viele Wagen nacheinander vorbei,
darum iſt es ſo fortgeſchoſſen; es hat vielleicht noch nie eine
Kutſche geſehen.“
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/118>, abgerufen am 23.07.2024.
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