Figuren, und unter ihren dunkeln Schatten trauerten Tulpen, Nelken und Narzissen. Ama- liens freier Wille hatte ihn in einen der fruchtbarsten Küchengärten verwandelt, sie zog den größten Spargel, den schönsten Blumen- kohl, sie pflückte die saftigste Pfirsche, die süs- seste Traube, und fühlte sich ganz glücklich, wenn ihr guter Vater die Frucht ihres Fleisses mit besonderm Appetite genoß, und ihre Kunst mit zärtlichen Ausdrücken bewunderte. Der Mutter Ermahnung, daß solche Arbeit die zarten Hände verderbe, machte dann keinen Eindruck auf ihr Herz. Sie sah ihre Schön- heit zwar als ein wohlthätiges Geschenk des Schöpfers an, aber sie war nicht eitel genug, sich zur Vermehrung derselben das kleinste Ver- gnügen zu entsagen, und eben dies erhöhte den Werth derselben. Sie glich vollkommen der Rose, die in freier Luft, gestärkt durch Thau und Regen, ihre vollen Knospen öfnet, da die meisten städtischen Schönheiten sonst so
Figuren, und unter ihren dunkeln Schatten trauerten Tulpen, Nelken und Narziſſen. Ama- liens freier Wille hatte ihn in einen der fruchtbarſten Kuͤchengaͤrten verwandelt, ſie zog den groͤßten Spargel, den ſchoͤnſten Blumen- kohl, ſie pfluͤckte die ſaftigſte Pfirſche, die ſuͤſ- ſeſte Traube, und fuͤhlte ſich ganz gluͤcklich, wenn ihr guter Vater die Frucht ihres Fleiſſes mit beſonderm Appetite genoß, und ihre Kunſt mit zaͤrtlichen Ausdruͤcken bewunderte. Der Mutter Ermahnung, daß ſolche Arbeit die zarten Haͤnde verderbe, machte dann keinen Eindruck auf ihr Herz. Sie ſah ihre Schoͤn- heit zwar als ein wohlthaͤtiges Geſchenk des Schoͤpfers an, aber ſie war nicht eitel genug, ſich zur Vermehrung derſelben das kleinſte Ver- gnuͤgen zu entſagen, und eben dies erhoͤhte den Werth derſelben. Sie glich vollkommen der Roſe, die in freier Luft, geſtaͤrkt durch Thau und Regen, ihre vollen Knospen oͤfnet, da die meiſten ſtaͤdtiſchen Schoͤnheiten ſonſt ſo
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Figuren, und unter ihren dunkeln Schatten
trauerten Tulpen, Nelken und Narziſſen. Ama-
liens freier Wille hatte ihn in einen der
fruchtbarſten Kuͤchengaͤrten verwandelt, ſie zog
den groͤßten Spargel, den ſchoͤnſten Blumen-
kohl, ſie pfluͤckte die ſaftigſte Pfirſche, die ſuͤſ-
ſeſte Traube, und fuͤhlte ſich ganz gluͤcklich,
wenn ihr guter Vater die Frucht ihres Fleiſſes
mit beſonderm Appetite genoß, und ihre Kunſt
mit zaͤrtlichen Ausdruͤcken bewunderte. Der
Mutter Ermahnung, daß ſolche Arbeit die
zarten Haͤnde verderbe, machte dann keinen
Eindruck auf ihr Herz. Sie ſah ihre Schoͤn-
heit zwar als ein wohlthaͤtiges Geſchenk des
Schoͤpfers an, aber ſie war nicht eitel genug,
ſich zur Vermehrung derſelben das kleinſte Ver-
gnuͤgen zu entſagen, und eben dies erhoͤhte
den Werth derſelben. Sie glich vollkommen
der Roſe, die in freier Luft, geſtaͤrkt durch
Thau und Regen, ihre vollen Knospen oͤfnet,
da die meiſten ſtaͤdtiſchen Schoͤnheiten ſonſt ſo
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/18>, abgerufen am 24.11.2024.
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