Wilhelm dankte für ihre gütige Meinung, aber sein unruhiger, trauriger Blick bewies deutlich, daß er neues Unglück ahnde. Ver- gebens suchte ihn Amaliens Blick zu ermun- tern, vergebens flüsterte sie ihm zu, daß keine Verläumdung ihre innige Liebe zu ihm schwächen könne, er schied traurig, und blickte seufzend gen Himmel.
Amalie saß schon am andern Morgen lange allein in der Gartenlaube; es war zwar ein unfreundlicher, nebelvoller Herbst- tag, aber sie hatte ihrem Wilhelm auf dem gestrigen Spaziergange erzählt, daß sie je- den Morgen diese Laube besuche, sie hofte, verstanden zu werden, und harrte itzt ver- gebens. Eben wollte sie mißvergnügt ins Schloß rückkehren, als ein Bauer sie im Garten suchte, und ihr einen kleinen Zettel überreichte. Ein fremder Herr, sprach er, gab mir ihn diesen Morgen, und bat mich
Wilhelm dankte fuͤr ihre guͤtige Meinung, aber ſein unruhiger, trauriger Blick bewies deutlich, daß er neues Ungluͤck ahnde. Ver- gebens ſuchte ihn Amaliens Blick zu ermun- tern, vergebens fluͤſterte ſie ihm zu, daß keine Verlaͤumdung ihre innige Liebe zu ihm ſchwaͤchen koͤnne, er ſchied traurig, und blickte ſeufzend gen Himmel.
Amalie ſaß ſchon am andern Morgen lange allein in der Gartenlaube; es war zwar ein unfreundlicher, nebelvoller Herbſt- tag, aber ſie hatte ihrem Wilhelm auf dem geſtrigen Spaziergange erzaͤhlt, daß ſie je- den Morgen dieſe Laube beſuche, ſie hofte, verſtanden zu werden, und harrte itzt ver- gebens. Eben wollte ſie mißvergnuͤgt ins Schloß ruͤckkehren, als ein Bauer ſie im Garten ſuchte, und ihr einen kleinen Zettel uͤberreichte. Ein fremder Herr, ſprach er, gab mir ihn dieſen Morgen, und bat mich
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Wilhelm dankte fuͤr ihre guͤtige Meinung,
aber ſein unruhiger, trauriger Blick bewies
deutlich, daß er neues Ungluͤck ahnde. Ver-
gebens ſuchte ihn Amaliens Blick zu ermun-
tern, vergebens fluͤſterte ſie ihm zu, daß
keine Verlaͤumdung ihre innige Liebe zu ihm
ſchwaͤchen koͤnne, er ſchied traurig, und blickte
ſeufzend gen Himmel.
Amalie ſaß ſchon am andern Morgen
lange allein in der Gartenlaube; es war
zwar ein unfreundlicher, nebelvoller Herbſt-
tag, aber ſie hatte ihrem Wilhelm auf dem
geſtrigen Spaziergange erzaͤhlt, daß ſie je-
den Morgen dieſe Laube beſuche, ſie hofte,
verſtanden zu werden, und harrte itzt ver-
gebens. Eben wollte ſie mißvergnuͤgt ins
Schloß ruͤckkehren, als ein Bauer ſie im
Garten ſuchte, und ihr einen kleinen Zettel
uͤberreichte. Ein fremder Herr, ſprach er,
gab mir ihn dieſen Morgen, und bat mich
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/108>, abgerufen am 24.11.2024.
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