Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
Schreiberdienste bei irgend einem Advokaten, aber alles war besetzt, er kehrte immer hoffnungslos wieder heim. Wilhelmine suchte sich durch nähen, stricken und Spitzen klöppeln zu ernähren, da aber die arme Blinde immer eines Gehülfen be- durfte, der ihr in zweifelhaften Fällen beistand, da ihre Arbeit äußerst mühsam von statten gieng, nie den erforderlichen Grad der Vollkommenheit erreichte, so konnte sie nichts gewinnen, hatte oft offenbaren Schaden. Auf diese Art neigte sich ihr kleines Kapital immer mehr zu Ende, der Augenschein überzeugte Franzen, daß sie nur zu bald den Bettelstab würden ergreifen müssen. Als nur noch hundert Thaler ihr ganzes Ver- mögen war, machte Franz seinem Weibe den Vor- schlag, daß er mit ihr aufs Land ziehen, dort eine Herberge suchen, und durch seiner Hände Ar- beit wenigstens das tägliche Brod verdienen wolle. Die arme Dulderin nahm den Vorschlag an, und reichte ihm ihre Hand zur Leitung. Ich habe ja, sprach sie, geschworen, mit dir Noth und Elend willig zu tragen. Deine Liebe hat mir der seligen Tage viele geschenkt, sie wird mir auch die übrigen versüßen; angenehm wird mir das trockne Brod schmecken, wenn ich mir denke, daß deine liebende Hand es erwarb. Gott gebe, daß nur du ausdauerst, daß nur du mir nicht entrissen wirst, dann werde ich gewiß standhaft dulden, und am Abende an meiner Kinder Hand dem Ernährer derselben froh entgegeneilen.
Schreiberdienſte bei irgend einem Advokaten, aber alles war beſetzt, er kehrte immer hoffnungslos wieder heim. Wilhelmine ſuchte ſich durch naͤhen, ſtricken und Spitzen kloͤppeln zu ernaͤhren, da aber die arme Blinde immer eines Gehuͤlfen be- durfte, der ihr in zweifelhaften Faͤllen beiſtand, da ihre Arbeit aͤußerſt muͤhſam von ſtatten gieng, nie den erforderlichen Grad der Vollkommenheit erreichte, ſo konnte ſie nichts gewinnen, hatte oft offenbaren Schaden. Auf dieſe Art neigte ſich ihr kleines Kapital immer mehr zu Ende, der Augenſchein uͤberzeugte Franzen, daß ſie nur zu bald den Bettelſtab wuͤrden ergreifen muͤſſen. Als nur noch hundert Thaler ihr ganzes Ver- moͤgen war, machte Franz ſeinem Weibe den Vor- ſchlag, daß er mit ihr aufs Land ziehen, dort eine Herberge ſuchen, und durch ſeiner Haͤnde Ar- beit wenigſtens das taͤgliche Brod verdienen wolle. Die arme Dulderin nahm den Vorſchlag an, und reichte ihm ihre Hand zur Leitung. Ich habe ja, ſprach ſie, geſchworen, mit dir Noth und Elend willig zu tragen. Deine Liebe hat mir der ſeligen Tage viele geſchenkt, ſie wird mir auch die uͤbrigen verſuͤßen; angenehm wird mir das trockne Brod ſchmecken, wenn ich mir denke, daß deine liebende Hand es erwarb. Gott gebe, daß nur du ausdauerſt, daß nur du mir nicht entriſſen wirſt, dann werde ich gewiß ſtandhaft dulden, und am Abende an meiner Kinder Hand dem Ernaͤhrer derſelben froh entgegeneilen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#WILH"> <p><pb facs="#f0094" n="86"/> Schreiberdienſte bei irgend einem Advokaten, aber<lb/> alles war beſetzt, er kehrte immer hoffnungslos<lb/> wieder heim. Wilhelmine ſuchte ſich durch naͤhen,<lb/> ſtricken und Spitzen kloͤppeln zu ernaͤhren, da<lb/> aber die arme Blinde immer eines Gehuͤlfen be-<lb/> durfte, der ihr in zweifelhaften Faͤllen beiſtand,<lb/> da ihre Arbeit aͤußerſt muͤhſam von ſtatten gieng,<lb/> nie den erforderlichen Grad der Vollkommenheit<lb/> erreichte, ſo konnte ſie nichts gewinnen, hatte oft<lb/> offenbaren Schaden. Auf dieſe Art neigte ſich<lb/> ihr kleines Kapital immer mehr zu Ende, der<lb/> Augenſchein uͤberzeugte Franzen, daß ſie nur zu<lb/> bald den Bettelſtab wuͤrden ergreifen muͤſſen.</p><lb/> <p>Als nur noch hundert Thaler ihr ganzes Ver-<lb/> moͤgen war, machte Franz ſeinem Weibe den Vor-<lb/> ſchlag, daß er mit ihr aufs Land ziehen, dort<lb/> eine Herberge ſuchen, und durch ſeiner Haͤnde Ar-<lb/> beit wenigſtens das taͤgliche Brod verdienen wolle.<lb/> Die arme Dulderin nahm den Vorſchlag an, und<lb/> reichte ihm ihre Hand zur Leitung. Ich habe ja,<lb/> ſprach ſie, geſchworen, mit dir Noth und Elend<lb/> willig zu tragen. Deine Liebe hat mir der<lb/> ſeligen Tage viele geſchenkt, ſie wird mir auch<lb/> die uͤbrigen verſuͤßen; angenehm wird mir das<lb/> trockne Brod ſchmecken, wenn ich mir denke,<lb/> daß deine liebende Hand es erwarb. Gott gebe,<lb/> daß nur du ausdauerſt, daß nur du mir nicht<lb/> entriſſen wirſt, dann werde ich gewiß ſtandhaft<lb/> dulden, und am Abende an meiner Kinder Hand<lb/> dem Ernaͤhrer derſelben froh entgegeneilen.</p><lb/> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [86/0094]
Schreiberdienſte bei irgend einem Advokaten, aber
alles war beſetzt, er kehrte immer hoffnungslos
wieder heim. Wilhelmine ſuchte ſich durch naͤhen,
ſtricken und Spitzen kloͤppeln zu ernaͤhren, da
aber die arme Blinde immer eines Gehuͤlfen be-
durfte, der ihr in zweifelhaften Faͤllen beiſtand,
da ihre Arbeit aͤußerſt muͤhſam von ſtatten gieng,
nie den erforderlichen Grad der Vollkommenheit
erreichte, ſo konnte ſie nichts gewinnen, hatte oft
offenbaren Schaden. Auf dieſe Art neigte ſich
ihr kleines Kapital immer mehr zu Ende, der
Augenſchein uͤberzeugte Franzen, daß ſie nur zu
bald den Bettelſtab wuͤrden ergreifen muͤſſen.
Als nur noch hundert Thaler ihr ganzes Ver-
moͤgen war, machte Franz ſeinem Weibe den Vor-
ſchlag, daß er mit ihr aufs Land ziehen, dort
eine Herberge ſuchen, und durch ſeiner Haͤnde Ar-
beit wenigſtens das taͤgliche Brod verdienen wolle.
Die arme Dulderin nahm den Vorſchlag an, und
reichte ihm ihre Hand zur Leitung. Ich habe ja,
ſprach ſie, geſchworen, mit dir Noth und Elend
willig zu tragen. Deine Liebe hat mir der
ſeligen Tage viele geſchenkt, ſie wird mir auch
die uͤbrigen verſuͤßen; angenehm wird mir das
trockne Brod ſchmecken, wenn ich mir denke,
daß deine liebende Hand es erwarb. Gott gebe,
daß nur du ausdauerſt, daß nur du mir nicht
entriſſen wirſt, dann werde ich gewiß ſtandhaft
dulden, und am Abende an meiner Kinder Hand
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