Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
ihrem Vater, er konnte öfterer als sonst sein Zim- mer verlassen, und an der Hand seiner Tochter im Garten umherschleichen. Die einzige Hofnung, welche bisher die beiden Liebenden getröstet hatte, verschwand mit dieser Besserung gänzlich, sie standen oft am Rande der Verzweiflung, erblick- ten nirgends Rettung, nirgends Hülfe. Wilhelminens Zustand ward täglich sichtbarer, die arme Blinde war nicht fähig, ihn vor den Augen ihrer Dienerinnen länger zu verbergen. Die auffallenden, oft deutlichen Fragen der letz- tern, überzeugten die Unglückliche, daß nun die letzte Stunde des unbescholtnen Rufes nahe, bald alle Zungen von ihr mit Verachtung sprechen wür- den. Sie suchte Trost in den Armen des Gelieb- ten, aber er duldete gleiche Quaal, gleiche Angst, konnte sie nicht trösten, nur mit ihr weinen. Als endlich der Vater sie auch mit aufmerksamen Auge zu betrachten begann, als er mehr als einmal sich über die Veränderung ihrer Taille verwunderte, und sie durch besorgende Fragen ängstigte, da er- reichte ihr Kummer den höchsten Grad, da nahte er sich ganz der Verzweiflung. Rette mich! Rette mich, sprach sie zu Franzen, oder ich ende noch heute, und morde mich und den Beweiß meiner Schande. Franz rang vergebens nach un- möglichen Mitteln, endlich fanden sie doch eins, welches ihnen Trost und künftige Ruhe zu ge- währen schien. Sie beschlossen, so bald, so schnell als möglich die Flucht zu ergreifen, und in ir-
ihrem Vater, er konnte oͤfterer als ſonſt ſein Zim- mer verlaſſen, und an der Hand ſeiner Tochter im Garten umherſchleichen. Die einzige Hofnung, welche bisher die beiden Liebenden getroͤſtet hatte, verſchwand mit dieſer Beſſerung gaͤnzlich, ſie ſtanden oft am Rande der Verzweiflung, erblick- ten nirgends Rettung, nirgends Huͤlfe. Wilhelminens Zuſtand ward taͤglich ſichtbarer, die arme Blinde war nicht faͤhig, ihn vor den Augen ihrer Dienerinnen laͤnger zu verbergen. Die auffallenden, oft deutlichen Fragen der letz- tern, uͤberzeugten die Ungluͤckliche, daß nun die letzte Stunde des unbeſcholtnen Rufes nahe, bald alle Zungen von ihr mit Verachtung ſprechen wuͤr- den. Sie ſuchte Troſt in den Armen des Gelieb- ten, aber er duldete gleiche Quaal, gleiche Angſt, konnte ſie nicht troͤſten, nur mit ihr weinen. Als endlich der Vater ſie auch mit aufmerkſamen Auge zu betrachten begann, als er mehr als einmal ſich uͤber die Veraͤnderung ihrer Taille verwunderte, und ſie durch beſorgende Fragen aͤngſtigte, da er- reichte ihr Kummer den hoͤchſten Grad, da nahte er ſich ganz der Verzweiflung. Rette mich! Rette mich, ſprach ſie zu Franzen, oder ich ende noch heute, und morde mich und den Beweiß meiner Schande. Franz rang vergebens nach un- moͤglichen Mitteln, endlich fanden ſie doch eins, welches ihnen Troſt und kuͤnftige Ruhe zu ge- waͤhren ſchien. Sie beſchloſſen, ſo bald, ſo ſchnell als moͤglich die Flucht zu ergreifen, und in ir- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#WILH"> <p><pb facs="#f0087" n="79"/> ihrem Vater, er konnte oͤfterer als ſonſt ſein Zim-<lb/> mer verlaſſen, und an der Hand ſeiner Tochter im<lb/> Garten umherſchleichen. Die einzige Hofnung,<lb/> welche bisher die beiden Liebenden getroͤſtet hatte,<lb/> verſchwand mit dieſer Beſſerung gaͤnzlich, ſie<lb/> ſtanden oft am Rande der Verzweiflung, erblick-<lb/> ten nirgends Rettung, nirgends Huͤlfe.</p><lb/> <p>Wilhelminens Zuſtand ward taͤglich ſichtbarer,<lb/> die arme Blinde war nicht faͤhig, ihn vor den<lb/> Augen ihrer Dienerinnen laͤnger zu verbergen.<lb/> Die auffallenden, oft deutlichen Fragen der letz-<lb/> tern, uͤberzeugten die Ungluͤckliche, daß nun die<lb/> letzte Stunde des unbeſcholtnen Rufes nahe, bald<lb/> alle Zungen von ihr mit Verachtung ſprechen wuͤr-<lb/> den. Sie ſuchte Troſt in den Armen des Gelieb-<lb/> ten, aber er duldete gleiche Quaal, gleiche Angſt,<lb/> konnte ſie nicht troͤſten, nur mit ihr weinen. Als<lb/> endlich der Vater ſie auch mit aufmerkſamen Auge<lb/> zu betrachten begann, als er mehr als einmal ſich<lb/> uͤber die Veraͤnderung ihrer Taille verwunderte,<lb/> und ſie durch beſorgende Fragen aͤngſtigte, da er-<lb/> reichte ihr Kummer den hoͤchſten Grad, da nahte<lb/> er ſich ganz der Verzweiflung. Rette mich!<lb/> Rette mich, ſprach ſie zu Franzen, oder ich ende<lb/> noch heute, und morde mich und den Beweiß<lb/> meiner Schande. Franz rang vergebens nach un-<lb/> moͤglichen Mitteln, endlich fanden ſie doch eins,<lb/> welches ihnen Troſt und kuͤnftige Ruhe zu ge-<lb/> waͤhren ſchien. Sie beſchloſſen, ſo bald, ſo ſchnell<lb/> als moͤglich die Flucht zu ergreifen, und in ir-<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [79/0087]
ihrem Vater, er konnte oͤfterer als ſonſt ſein Zim-
mer verlaſſen, und an der Hand ſeiner Tochter im
Garten umherſchleichen. Die einzige Hofnung,
welche bisher die beiden Liebenden getroͤſtet hatte,
verſchwand mit dieſer Beſſerung gaͤnzlich, ſie
ſtanden oft am Rande der Verzweiflung, erblick-
ten nirgends Rettung, nirgends Huͤlfe.
Wilhelminens Zuſtand ward taͤglich ſichtbarer,
die arme Blinde war nicht faͤhig, ihn vor den
Augen ihrer Dienerinnen laͤnger zu verbergen.
Die auffallenden, oft deutlichen Fragen der letz-
tern, uͤberzeugten die Ungluͤckliche, daß nun die
letzte Stunde des unbeſcholtnen Rufes nahe, bald
alle Zungen von ihr mit Verachtung ſprechen wuͤr-
den. Sie ſuchte Troſt in den Armen des Gelieb-
ten, aber er duldete gleiche Quaal, gleiche Angſt,
konnte ſie nicht troͤſten, nur mit ihr weinen. Als
endlich der Vater ſie auch mit aufmerkſamen Auge
zu betrachten begann, als er mehr als einmal ſich
uͤber die Veraͤnderung ihrer Taille verwunderte,
und ſie durch beſorgende Fragen aͤngſtigte, da er-
reichte ihr Kummer den hoͤchſten Grad, da nahte
er ſich ganz der Verzweiflung. Rette mich!
Rette mich, ſprach ſie zu Franzen, oder ich ende
noch heute, und morde mich und den Beweiß
meiner Schande. Franz rang vergebens nach un-
moͤglichen Mitteln, endlich fanden ſie doch eins,
welches ihnen Troſt und kuͤnftige Ruhe zu ge-
waͤhren ſchien. Sie beſchloſſen, ſo bald, ſo ſchnell
als moͤglich die Flucht zu ergreifen, und in ir-
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