gen des Kindes, die Hülfe der geschicktesten Aerzte war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au- gen waren ein Raub der Blattern geworden, sie blieb ganz blind.
Von diesem Augenblicke an war dauerhafte Ge- sundheit das Loos der armen Kleinen, sie blühte gleich einer Rose, und sah ganz einem Amor ähn- lich, wenn man ihre geschloßnen Augenlieder mit einem schwarzen Bande bedeckte. Das unverschul- dete Unglück raubte ihr nicht die Liebe des Va- ters, sie ward ihm dadurch werther und theuerer, er war noch nicht fünfzig Jahr alt, aber er hei- rathete nicht mehr, damit er sein blindes Kind wenigstens mit all seinem Reichthume beglücken könne.
Wilhelmine ward in der Folge eins der schön- sten Mädchen ihres Zeitalters, die schwarze Bin- de, welche stets ihre Augen deckte, hinderte ihre Reize nicht, erhöhte sie vielmehr. Man konnte, wenn man in ihr holdes Angesicht blickte, sie aus- drucksvoll sprechen hörte, ihr Liebe und Bewun- derung selten versagen, man war froh, daß sich ihr Auge nicht enthülle, weil man allzustark be- siegt zu werden, fürchtete, man, dankte ihr, daß sie nur sanft regieren wolle, wo sie doch unum- schränkte Siegerin seyn konnte. Sie verrieth in ihrer frühen Jugend schon die herrlichsten Talen- te, und besaß sie in der Folge wirklich. Ihr wahrhaft großes Genie, ihre unermüdete, aushar- rende Geduld überwand die größten Schwierigkei-
gen des Kindes, die Huͤlfe der geſchickteſten Aerzte war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au- gen waren ein Raub der Blattern geworden, ſie blieb ganz blind.
Von dieſem Augenblicke an war dauerhafte Ge- ſundheit das Loos der armen Kleinen, ſie bluͤhte gleich einer Roſe, und ſah ganz einem Amor aͤhn- lich, wenn man ihre geſchloßnen Augenlieder mit einem ſchwarzen Bande bedeckte. Das unverſchul- dete Ungluͤck raubte ihr nicht die Liebe des Va- ters, ſie ward ihm dadurch werther und theuerer, er war noch nicht fuͤnfzig Jahr alt, aber er hei- rathete nicht mehr, damit er ſein blindes Kind wenigſtens mit all ſeinem Reichthume begluͤcken koͤnne.
Wilhelmine ward in der Folge eins der ſchoͤn- ſten Maͤdchen ihres Zeitalters, die ſchwarze Bin- de, welche ſtets ihre Augen deckte, hinderte ihre Reize nicht, erhoͤhte ſie vielmehr. Man konnte, wenn man in ihr holdes Angeſicht blickte, ſie aus- drucksvoll ſprechen hoͤrte, ihr Liebe und Bewun- derung ſelten verſagen, man war froh, daß ſich ihr Auge nicht enthuͤlle, weil man allzuſtark be- ſiegt zu werden, fuͤrchtete, man, dankte ihr, daß ſie nur ſanft regieren wolle, wo ſie doch unum- ſchraͤnkte Siegerin ſeyn konnte. Sie verrieth in ihrer fruͤhen Jugend ſchon die herrlichſten Talen- te, und beſaß ſie in der Folge wirklich. Ihr wahrhaft großes Genie, ihre unermuͤdete, aushar- rende Geduld uͤberwand die groͤßten Schwierigkei-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0076"n="68"/>
gen des Kindes, die Huͤlfe der geſchickteſten Aerzte<lb/>
war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au-<lb/>
gen waren ein Raub der Blattern geworden, ſie<lb/>
blieb ganz blind.</p><lb/><p>Von dieſem Augenblicke an war dauerhafte Ge-<lb/>ſundheit das Loos der armen Kleinen, ſie bluͤhte<lb/>
gleich einer Roſe, und ſah ganz einem Amor aͤhn-<lb/>
lich, wenn man ihre geſchloßnen Augenlieder mit<lb/>
einem ſchwarzen Bande bedeckte. Das unverſchul-<lb/>
dete Ungluͤck raubte ihr nicht die Liebe des Va-<lb/>
ters, ſie ward ihm dadurch werther und theuerer,<lb/>
er war noch nicht fuͤnfzig Jahr alt, aber er hei-<lb/>
rathete nicht mehr, damit er ſein blindes Kind<lb/>
wenigſtens mit all ſeinem Reichthume begluͤcken<lb/>
koͤnne.</p><lb/><p>Wilhelmine ward in der Folge eins der ſchoͤn-<lb/>ſten Maͤdchen ihres Zeitalters, die ſchwarze Bin-<lb/>
de, welche ſtets ihre Augen deckte, hinderte ihre<lb/>
Reize nicht, erhoͤhte ſie vielmehr. Man konnte,<lb/>
wenn man in ihr holdes Angeſicht blickte, ſie aus-<lb/>
drucksvoll ſprechen hoͤrte, ihr Liebe und Bewun-<lb/>
derung ſelten verſagen, man war froh, daß ſich<lb/>
ihr Auge nicht enthuͤlle, weil man allzuſtark be-<lb/>ſiegt zu werden, fuͤrchtete, man, dankte ihr, daß<lb/>ſie nur ſanft regieren wolle, wo ſie doch unum-<lb/>ſchraͤnkte Siegerin ſeyn konnte. Sie verrieth in<lb/>
ihrer fruͤhen Jugend ſchon die herrlichſten Talen-<lb/>
te, und beſaß ſie in der Folge wirklich. Ihr<lb/>
wahrhaft großes Genie, ihre unermuͤdete, aushar-<lb/>
rende Geduld uͤberwand die groͤßten Schwierigkei-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[68/0076]
gen des Kindes, die Huͤlfe der geſchickteſten Aerzte
war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au-
gen waren ein Raub der Blattern geworden, ſie
blieb ganz blind.
Von dieſem Augenblicke an war dauerhafte Ge-
ſundheit das Loos der armen Kleinen, ſie bluͤhte
gleich einer Roſe, und ſah ganz einem Amor aͤhn-
lich, wenn man ihre geſchloßnen Augenlieder mit
einem ſchwarzen Bande bedeckte. Das unverſchul-
dete Ungluͤck raubte ihr nicht die Liebe des Va-
ters, ſie ward ihm dadurch werther und theuerer,
er war noch nicht fuͤnfzig Jahr alt, aber er hei-
rathete nicht mehr, damit er ſein blindes Kind
wenigſtens mit all ſeinem Reichthume begluͤcken
koͤnne.
Wilhelmine ward in der Folge eins der ſchoͤn-
ſten Maͤdchen ihres Zeitalters, die ſchwarze Bin-
de, welche ſtets ihre Augen deckte, hinderte ihre
Reize nicht, erhoͤhte ſie vielmehr. Man konnte,
wenn man in ihr holdes Angeſicht blickte, ſie aus-
drucksvoll ſprechen hoͤrte, ihr Liebe und Bewun-
derung ſelten verſagen, man war froh, daß ſich
ihr Auge nicht enthuͤlle, weil man allzuſtark be-
ſiegt zu werden, fuͤrchtete, man, dankte ihr, daß
ſie nur ſanft regieren wolle, wo ſie doch unum-
ſchraͤnkte Siegerin ſeyn konnte. Sie verrieth in
ihrer fruͤhen Jugend ſchon die herrlichſten Talen-
te, und beſaß ſie in der Folge wirklich. Ihr
wahrhaft großes Genie, ihre unermuͤdete, aushar-
rende Geduld uͤberwand die groͤßten Schwierigkei-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/76>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.