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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

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gen des Kindes, die Hülfe der geschicktesten Aerzte
war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au-
gen waren ein Raub der Blattern geworden, sie
blieb ganz blind.

Von diesem Augenblicke an war dauerhafte Ge-
sundheit das Loos der armen Kleinen, sie blühte
gleich einer Rose, und sah ganz einem Amor ähn-
lich, wenn man ihre geschloßnen Augenlieder mit
einem schwarzen Bande bedeckte. Das unverschul-
dete Unglück raubte ihr nicht die Liebe des Va-
ters, sie ward ihm dadurch werther und theuerer,
er war noch nicht fünfzig Jahr alt, aber er hei-
rathete nicht mehr, damit er sein blindes Kind
wenigstens mit all seinem Reichthume beglücken
könne.

Wilhelmine ward in der Folge eins der schön-
sten Mädchen ihres Zeitalters, die schwarze Bin-
de, welche stets ihre Augen deckte, hinderte ihre
Reize nicht, erhöhte sie vielmehr. Man konnte,
wenn man in ihr holdes Angesicht blickte, sie aus-
drucksvoll sprechen hörte, ihr Liebe und Bewun-
derung selten versagen, man war froh, daß sich
ihr Auge nicht enthülle, weil man allzustark be-
siegt zu werden, fürchtete, man, dankte ihr, daß
sie nur sanft regieren wolle, wo sie doch unum-
schränkte Siegerin seyn konnte. Sie verrieth in
ihrer frühen Jugend schon die herrlichsten Talen-
te, und besaß sie in der Folge wirklich. Ihr
wahrhaft großes Genie, ihre unermüdete, aushar-
rende Geduld überwand die größten Schwierigkei-

gen des Kindes, die Huͤlfe der geſchickteſten Aerzte
war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au-
gen waren ein Raub der Blattern geworden, ſie
blieb ganz blind.

Von dieſem Augenblicke an war dauerhafte Ge-
ſundheit das Loos der armen Kleinen, ſie bluͤhte
gleich einer Roſe, und ſah ganz einem Amor aͤhn-
lich, wenn man ihre geſchloßnen Augenlieder mit
einem ſchwarzen Bande bedeckte. Das unverſchul-
dete Ungluͤck raubte ihr nicht die Liebe des Va-
ters, ſie ward ihm dadurch werther und theuerer,
er war noch nicht fuͤnfzig Jahr alt, aber er hei-
rathete nicht mehr, damit er ſein blindes Kind
wenigſtens mit all ſeinem Reichthume begluͤcken
koͤnne.

Wilhelmine ward in der Folge eins der ſchoͤn-
ſten Maͤdchen ihres Zeitalters, die ſchwarze Bin-
de, welche ſtets ihre Augen deckte, hinderte ihre
Reize nicht, erhoͤhte ſie vielmehr. Man konnte,
wenn man in ihr holdes Angeſicht blickte, ſie aus-
drucksvoll ſprechen hoͤrte, ihr Liebe und Bewun-
derung ſelten verſagen, man war froh, daß ſich
ihr Auge nicht enthuͤlle, weil man allzuſtark be-
ſiegt zu werden, fuͤrchtete, man, dankte ihr, daß
ſie nur ſanft regieren wolle, wo ſie doch unum-
ſchraͤnkte Siegerin ſeyn konnte. Sie verrieth in
ihrer fruͤhen Jugend ſchon die herrlichſten Talen-
te, und beſaß ſie in der Folge wirklich. Ihr
wahrhaft großes Genie, ihre unermuͤdete, aushar-
rende Geduld uͤberwand die groͤßten Schwierigkei-

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[68/0076] gen des Kindes, die Huͤlfe der geſchickteſten Aerzte war vergebens, Wilhelmine genas, aber ihre Au- gen waren ein Raub der Blattern geworden, ſie blieb ganz blind. Von dieſem Augenblicke an war dauerhafte Ge- ſundheit das Loos der armen Kleinen, ſie bluͤhte gleich einer Roſe, und ſah ganz einem Amor aͤhn- lich, wenn man ihre geſchloßnen Augenlieder mit einem ſchwarzen Bande bedeckte. Das unverſchul- dete Ungluͤck raubte ihr nicht die Liebe des Va- ters, ſie ward ihm dadurch werther und theuerer, er war noch nicht fuͤnfzig Jahr alt, aber er hei- rathete nicht mehr, damit er ſein blindes Kind wenigſtens mit all ſeinem Reichthume begluͤcken koͤnne. Wilhelmine ward in der Folge eins der ſchoͤn- ſten Maͤdchen ihres Zeitalters, die ſchwarze Bin- de, welche ſtets ihre Augen deckte, hinderte ihre Reize nicht, erhoͤhte ſie vielmehr. Man konnte, wenn man in ihr holdes Angeſicht blickte, ſie aus- drucksvoll ſprechen hoͤrte, ihr Liebe und Bewun- derung ſelten verſagen, man war froh, daß ſich ihr Auge nicht enthuͤlle, weil man allzuſtark be- ſiegt zu werden, fuͤrchtete, man, dankte ihr, daß ſie nur ſanft regieren wolle, wo ſie doch unum- ſchraͤnkte Siegerin ſeyn konnte. Sie verrieth in ihrer fruͤhen Jugend ſchon die herrlichſten Talen- te, und beſaß ſie in der Folge wirklich. Ihr wahrhaft großes Genie, ihre unermuͤdete, aushar- rende Geduld uͤberwand die groͤßten Schwierigkei-

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/76>, abgerufen am 07.05.2024.