Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

zehn Jahren genoß sie noch immer das ungetheilte
Mitleid aller Dorfsbewohner, weil sie vielen un-
ter ihnen Gutes erwiesen, keinen beleidigt, und
aller Meinung nach durch das schreckliche Ende
ihres Mannes, durch die plötzliche Entdeckung sei-
nes Mörders ihren Verstand verlohren hatte.

Um diese Zeit forderte das Kriminalgerichte der
Hauptstadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene
und überwiesene Giftmischerin sie der Theilnahme
eines Mords beschuldige. Man sandte sie dahin,
sie lächelte, als man ihr die Ketten anlegte, und
sprach oft: Gott ist gerecht!

Die Richter sahen bald ein, daß sie eine
Wahnsinnige nicht verhören, eben so wenig ver-
urtheilen könnten; da aber die Gefangne aus-
drücklich bekannte, daß dieß die Angeklagte sei,
und auf dieß Bekenntniß starb, so ward Marie
nicht mehr nach dem Dorfe zurückgesandt, son-
dern im Hospitale der Wahnsinnigen bis an ihr
Ende verwahrt. Dieß erfolgte erst funfzehn Jahr
nachher.

Sie handelte diese lange Zeit hindurch immer
gleichförmig, rief jedem, der sich ihrem Kämmer-
chen näherte, mit lauter Stimme zu: Gott ist
gerecht! und küßte die Kette, an welche sie an-
geschlossen war. Wie schon der Tod mit ihr
rang, richtete sie sich noch einmal auf, blickte
die neben ihr stehende Wärterin starr an, faltete
ihre Hände zum Gebete, und rief aus: Gott
ist gerecht, aber auch barmherzig
! Nach

zehn Jahren genoß ſie noch immer das ungetheilte
Mitleid aller Dorfsbewohner, weil ſie vielen un-
ter ihnen Gutes erwieſen, keinen beleidigt, und
aller Meinung nach durch das ſchreckliche Ende
ihres Mannes, durch die ploͤtzliche Entdeckung ſei-
nes Moͤrders ihren Verſtand verlohren hatte.

Um dieſe Zeit forderte das Kriminalgerichte der
Hauptſtadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene
und uͤberwieſene Giftmiſcherin ſie der Theilnahme
eines Mords beſchuldige. Man ſandte ſie dahin,
ſie laͤchelte, als man ihr die Ketten anlegte, und
ſprach oft: Gott iſt gerecht!

Die Richter ſahen bald ein, daß ſie eine
Wahnſinnige nicht verhoͤren, eben ſo wenig ver-
urtheilen koͤnnten; da aber die Gefangne aus-
druͤcklich bekannte, daß dieß die Angeklagte ſei,
und auf dieß Bekenntniß ſtarb, ſo ward Marie
nicht mehr nach dem Dorfe zuruͤckgeſandt, ſon-
dern im Hoſpitale der Wahnſinnigen bis an ihr
Ende verwahrt. Dieß erfolgte erſt funfzehn Jahr
nachher.

Sie handelte dieſe lange Zeit hindurch immer
gleichfoͤrmig, rief jedem, der ſich ihrem Kaͤmmer-
chen naͤherte, mit lauter Stimme zu: Gott iſt
gerecht! und kuͤßte die Kette, an welche ſie an-
geſchloſſen war. Wie ſchon der Tod mit ihr
rang, richtete ſie ſich noch einmal auf, blickte
die neben ihr ſtehende Waͤrterin ſtarr an, faltete
ihre Haͤnde zum Gebete, und rief aus: Gott
iſt gerecht, aber auch barmherzig
! Nach

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0188" n="180"/>
zehn Jahren genoß &#x017F;ie noch immer das ungetheilte<lb/>
Mitleid aller Dorfsbewohner, weil &#x017F;ie vielen un-<lb/>
ter ihnen Gutes erwie&#x017F;en, keinen beleidigt, und<lb/>
aller Meinung nach durch das &#x017F;chreckliche Ende<lb/>
ihres Mannes, durch die plo&#x0364;tzliche Entdeckung &#x017F;ei-<lb/>
nes Mo&#x0364;rders ihren Ver&#x017F;tand verlohren hatte.</p><lb/>
        <p>Um die&#x017F;e Zeit forderte das Kriminalgerichte der<lb/>
Haupt&#x017F;tadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene<lb/>
und u&#x0364;berwie&#x017F;ene Giftmi&#x017F;cherin &#x017F;ie der Theilnahme<lb/>
eines Mords be&#x017F;chuldige. Man &#x017F;andte &#x017F;ie dahin,<lb/>
&#x017F;ie la&#x0364;chelte, als man ihr die Ketten anlegte, und<lb/>
&#x017F;prach oft: Gott i&#x017F;t gerecht!</p><lb/>
        <p>Die Richter &#x017F;ahen bald ein, daß &#x017F;ie eine<lb/>
Wahn&#x017F;innige nicht verho&#x0364;ren, eben &#x017F;o wenig ver-<lb/>
urtheilen ko&#x0364;nnten; da aber die Gefangne aus-<lb/>
dru&#x0364;cklich bekannte, daß dieß die Angeklagte &#x017F;ei,<lb/>
und auf dieß Bekenntniß &#x017F;tarb, &#x017F;o ward Marie<lb/>
nicht mehr nach dem Dorfe zuru&#x0364;ckge&#x017F;andt, &#x017F;on-<lb/>
dern im Ho&#x017F;pitale der Wahn&#x017F;innigen bis an ihr<lb/>
Ende verwahrt. Dieß erfolgte er&#x017F;t funfzehn Jahr<lb/>
nachher.</p><lb/>
        <p>Sie handelte die&#x017F;e lange Zeit hindurch immer<lb/>
gleichfo&#x0364;rmig, rief jedem, der &#x017F;ich ihrem Ka&#x0364;mmer-<lb/>
chen na&#x0364;herte, mit lauter Stimme zu: Gott i&#x017F;t<lb/>
gerecht! und ku&#x0364;ßte die Kette, an welche &#x017F;ie an-<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en war. Wie &#x017F;chon der Tod mit ihr<lb/>
rang, richtete &#x017F;ie &#x017F;ich noch einmal auf, blickte<lb/>
die neben ihr &#x017F;tehende Wa&#x0364;rterin &#x017F;tarr an, faltete<lb/>
ihre Ha&#x0364;nde zum Gebete, und rief aus: <hi rendition="#g">Gott<lb/>
i&#x017F;t gerecht, aber auch barmherzig</hi>! Nach<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0188] zehn Jahren genoß ſie noch immer das ungetheilte Mitleid aller Dorfsbewohner, weil ſie vielen un- ter ihnen Gutes erwieſen, keinen beleidigt, und aller Meinung nach durch das ſchreckliche Ende ihres Mannes, durch die ploͤtzliche Entdeckung ſei- nes Moͤrders ihren Verſtand verlohren hatte. Um dieſe Zeit forderte das Kriminalgerichte der Hauptſtadt ihre Gegenwart, weil eine Gefangene und uͤberwieſene Giftmiſcherin ſie der Theilnahme eines Mords beſchuldige. Man ſandte ſie dahin, ſie laͤchelte, als man ihr die Ketten anlegte, und ſprach oft: Gott iſt gerecht! Die Richter ſahen bald ein, daß ſie eine Wahnſinnige nicht verhoͤren, eben ſo wenig ver- urtheilen koͤnnten; da aber die Gefangne aus- druͤcklich bekannte, daß dieß die Angeklagte ſei, und auf dieß Bekenntniß ſtarb, ſo ward Marie nicht mehr nach dem Dorfe zuruͤckgeſandt, ſon- dern im Hoſpitale der Wahnſinnigen bis an ihr Ende verwahrt. Dieß erfolgte erſt funfzehn Jahr nachher. Sie handelte dieſe lange Zeit hindurch immer gleichfoͤrmig, rief jedem, der ſich ihrem Kaͤmmer- chen naͤherte, mit lauter Stimme zu: Gott iſt gerecht! und kuͤßte die Kette, an welche ſie an- geſchloſſen war. Wie ſchon der Tod mit ihr rang, richtete ſie ſich noch einmal auf, blickte die neben ihr ſtehende Waͤrterin ſtarr an, faltete ihre Haͤnde zum Gebete, und rief aus: Gott iſt gerecht, aber auch barmherzig! Nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/188
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/188>, abgerufen am 22.11.2024.