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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

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Esther. Es ist möglich! (verwirrt) Mir
schien's auch so!
Vater. Raubte er dir nicht einen Kuß, wie
ich eben erwachte?
Esther. Ich glaube! Ja, ja, er thats.
Vater. (mit ernstem Blicke) Und was
sprach er denn so dringend, so heimlich mit dir?
Esther. Er bat mich, daß ich morgen nach
unserm Garten vors Thor gehen, und ihm erlau-
ben solle, mich dort zu besuchen.
Vater. Du verweigertest ihm doch seine
Bitte?
Esther. Nein, ich gewährte sie ihm, und
versprach zu kommen.
Vater. Und du wunderst dich noch, daß
Kummer mein Herz ängstigt, mein altes Auge mit
Thränen trübt? O Gott, laß mich sterben, laß
mich schnell und bald sterben, wenn du mir nicht
die Freude, ein reines und schuldloses Kind zu ha-
ben, länger gewähren willst.
Esther. (traurig) Vater, ich will morgen
nicht nach dem Garten gehen.
Vater. Das wäre etwas, aber noch lange
nicht alles. Kannst du dich entschließen, den jun-
gen Offizier nicht mehr zu sehn, wenigstens nicht
mehr zu sprechen?
Esther. (ihm um den Hals fallend)
Einem solchen Vater zu Liebe vermag ich noch
mehr. Ich wills vermeiden, ihn zu sehen, ich
will ihn nie mehr sprechen.

Eſther. Es iſt moͤglich! (verwirrt) Mir
ſchien's auch ſo!
Vater. Raubte er dir nicht einen Kuß, wie
ich eben erwachte?
Eſther. Ich glaube! Ja, ja, er thats.
Vater. (mit ernſtem Blicke) Und was
ſprach er denn ſo dringend, ſo heimlich mit dir?
Eſther. Er bat mich, daß ich morgen nach
unſerm Garten vors Thor gehen, und ihm erlau-
ben ſolle, mich dort zu beſuchen.
Vater. Du verweigerteſt ihm doch ſeine
Bitte?
Eſther. Nein, ich gewaͤhrte ſie ihm, und
verſprach zu kommen.
Vater. Und du wunderſt dich noch, daß
Kummer mein Herz aͤngſtigt, mein altes Auge mit
Thraͤnen truͤbt? O Gott, laß mich ſterben, laß
mich ſchnell und bald ſterben, wenn du mir nicht
die Freude, ein reines und ſchuldloſes Kind zu ha-
ben, laͤnger gewaͤhren willſt.
Eſther. (traurig) Vater, ich will morgen
nicht nach dem Garten gehen.
Vater. Das waͤre etwas, aber noch lange
nicht alles. Kannſt du dich entſchließen, den jun-
gen Offizier nicht mehr zu ſehn, wenigſtens nicht
mehr zu ſprechen?
Eſther. (ihm um den Hals fallend)
Einem ſolchen Vater zu Liebe vermag ich noch
mehr. Ich wills vermeiden, ihn zu ſehen, ich
will ihn nie mehr ſprechen.

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[6/0014] Eſther. Es iſt moͤglich! (verwirrt) Mir ſchien's auch ſo! Vater. Raubte er dir nicht einen Kuß, wie ich eben erwachte? Eſther. Ich glaube! Ja, ja, er thats. Vater. (mit ernſtem Blicke) Und was ſprach er denn ſo dringend, ſo heimlich mit dir? Eſther. Er bat mich, daß ich morgen nach unſerm Garten vors Thor gehen, und ihm erlau- ben ſolle, mich dort zu beſuchen. Vater. Du verweigerteſt ihm doch ſeine Bitte? Eſther. Nein, ich gewaͤhrte ſie ihm, und verſprach zu kommen. Vater. Und du wunderſt dich noch, daß Kummer mein Herz aͤngſtigt, mein altes Auge mit Thraͤnen truͤbt? O Gott, laß mich ſterben, laß mich ſchnell und bald ſterben, wenn du mir nicht die Freude, ein reines und ſchuldloſes Kind zu ha- ben, laͤnger gewaͤhren willſt. Eſther. (traurig) Vater, ich will morgen nicht nach dem Garten gehen. Vater. Das waͤre etwas, aber noch lange nicht alles. Kannſt du dich entſchließen, den jun- gen Offizier nicht mehr zu ſehn, wenigſtens nicht mehr zu ſprechen? Eſther. (ihm um den Hals fallend) Einem ſolchen Vater zu Liebe vermag ich noch mehr. Ich wills vermeiden, ihn zu ſehen, ich will ihn nie mehr ſprechen.

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/14>, abgerufen am 29.03.2024.